Pablo

Ein Roman von
Wolfgang Meilenstein



 

Vorwort


Guten Tag sehr geehrte Leser und Leserinnen.
Wundern Sie sich auch manchmal selbst darüber, wie unglaublich gebildet Sie sind?
Das wirkt auf den ersten Blick vielleicht ein bisschen arrogant, aber wenn wir objektiv an die Sache herangehen, ist es nicht mehr von der Hand zu weisen!
Stellen Sie sich zum Beispiel einmal vor, im siebzehnten Jahrhundert zu leben. Sie könnten Professor werden, eine Universität gründen und die ganze Wissenschaft völlig revolutionieren!
Und das allein mit dem, was sich in genau diesem Moment in Ihrem Kopf befindet.
Sie sehen, den Menschen aus der Vergangenheit sind Sie vom Wissen her tatsächlich überlegen, selbst Newton mit seinem Apfel können Sie nur müde belächeln, zumindest, bis er ihnen seine gesammelten Werke vorlegt.
Außerdem, so ganz unter uns… Wenn Sie sich mit den Menschen in Ihrer Umgebung vergleichen, dem Nachbarn, dem Arbeitskollegen… Eigentlich können selbst die Ihnen nicht annähernd das Wasser reichen. [Höchstens beim gemeinsamen Abendessen.] Die globale Erwärmung, den Treibhauseffekt und das Ansteigen des Meeresspiegels können Sie sicherlich perfekt erklären und belegen, [Also bitte… Jeder weiß, dass es so ist.] wenn jemand die Formel E=mc² erwähnt, löst das bei Ihnen nur ein wissendes Lächeln aus und natürlich wissen Sie auch Bescheid über die "Viele-Welten-Theorie", bekanntermaßen leben wir ja nur in einem kleinen Teil des Multiversums.
Die folgende Information ist für Sie sicherlich ein alter Hut: Wenn irgendwo etwas geschieht oder jemand eine Entscheidung trifft, spaltet sich unsere Realität in mehrere Teile.
Wenn Sie beispielsweise eine Münze werfen, leben Sie in dem Universum weiter, in dem die Münze "Kopf" zeigt, gleichzeitig entsteht aber ein neues Universum, in dem "Zahl" nach oben zeigt. Dies gilt für alle Ereignisse auf der Welt, deshalb ist die Anzahl der verschiedenen Universen gelinde gesagt… hoch, man sagt ja sogar gerne "unendlich".
Überlegungen dieser Art sind zwar ein bisschen gruselig, aber immerhin merken wir nichts von den anderen Universen und können sie getrost im Alltag vergessen. Sie schaden nicht, können aber manchmal nützlich sein:
Man kann beispielsweise einen sehr gebildeten Eindruck erwecken, wenn man darüber redet.
So ist für Sie auch klar, dass es ein Universum gibt, in dem Kennedy noch lebt, eines, in dem Stauffenbergs Anschlag auf Hitler geglückt ist, eines, in dem das World Trade Center noch steht usw. Natürlich haben diejenigen, die in diesen Universen leben, [Was durchaus sogar Sie selbst sein könnten.] ein bisschen mehr Glück als wir. Möglicherweise wissen Sie sogar, dass das Ganze in Wirklichkeit so nicht funktioniert. [Falls es überhaupt irgendwie funktioniert… Es ist ja nur eine Theorie. Da aber jeder darüber Bescheid weiß und diese "Theorie" als selbstverständlich erachtet, können wir eigentlich auch ruhigen Gewissens von einer Tatsache sprechen. Oder etwa nicht?]
Auf jeden Fall ist es eine durchaus amüsante Vorstellung, dass in einer Parallelwelt das Spermium, aus dem einmal Ihr Großvater werden sollte, kurz vor der Eizelle von einem bisschen merkwürdiger Strahlung  [Vielleicht wohnte er unter einer Starkstromleitung oder guckte immer durch das Fenster in der Mikrowelle, um zu sehen, wie sein Essen garte.] getroffen wurde und deshalb eine Mutation aufwies, die ihren Großvater wie einen Affen aussehen ließ. Wegen der verflixten Vererbung hätten Sie dann ihre erste Rasur mit drei Jahren erlebt.
Das ist natürlich von vorne bis hinten ausgemachter Blödsinn, [Wissen Sie ja.] aber ein nettes Beispiel zur Veranschaulichung.
Worauf ich letztendlich nur hinaus will, ist Folgendes: Es gibt unendlich viele Universen. Wie ich mir da so sicher sein kann?
Ganz einfach, ich kann sie sehen.
Natürlich könnte ich damit [Genau so wie Sie im siebzehnten Jahrhundert]  die Wissenschaft revolutionieren, den Nobelpreis erhalten und für immer in die Geschichtsbücher eingehen, aber das möchte ich gar nicht.
Ich habe ganz andere Ziele.
Eines der vielen Universen erscheint mir besonders interessant, deshalb richte ich meinen Blick darauf und erzähle Ihnen einfach, was dort vor sich geht.
Das ist Ihnen doch sicherlich auch lieber als ein weiterer langweiliger Nobelpreisträger, dessen Name man schon beim Lesen wieder vergisst.
Zum besseren Verständnis bezeichne ich das Universum, aus dem ich berichte, als „Universum 3“. Das ist zwar vermutlich wissenschaftlich nicht ganz korrekt, macht es uns aber einfacher. Wir gehen einfach davon aus, dass wir in Universum 1 leben. Dann gibt es noch Universum 2. Universum 2, das kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen, ist ausgesprochen schrecklich. Vermutlich ist dort irgendetwas in der Ursuppe schief gelaufen, wahrscheinlich möchten Sie lieber gar nicht wissen, wie es dort aussieht. Kleiner Hinweis:
Es gibt dort viele Tentakel und Zähne…
Das dritte Universum ist wieder um einiges vernünftiger und zufälligerweise lohnt es sich, daraus zu erzählen.
Als ordentliche Wissenschaftler können wir natürlich nicht leugnen, dass ich vorher bereits einen Blick in ein anderes Universum geworfen habe, deshalb bleibt nichts anderes übrig, als das interessanteste von allen nur als Universum 3 zu bezeichnen.
Wenn es Ihnen hilft, können Sie es auch einfach Frank nennen.



Roman


Irgendwo.
Eine Welt voller Schwärze.
Dunkelheit fließt umher wie Wasser am Grund des Ozeans. Oder ist es sogar Wasser?
Eventuell auch eine andere Flüssigkeit?
Menschliche Augen und Gehirne haben Schwierigkeiten, die Umgebung richtig wahrzunehmen.
Trotz der fast greifbaren Dunkelheit kann man ein wenig sehen.
Alles scheint zu glühen… schwarz.
Man sieht Bewegung in der Ferne.
Schlängelnde Bewegung, große, träge Körper, jedoch merkwürdig elastisch. Vielleicht ist die Entfernung auch gar nicht so groß und die Körper sind klein und wendig.
Plötzlich unterbricht ein kleiner Riss die glühende Schwärze. Licht strahlt hindurch, wird aber nach wenigen Zentimetern [Falls es so etwas hier überhaupt gibt.] von der flüssigen Dunkelheit… verdaut.
Die Masse voller Bewegungen hält auf den Riss zu.
Ein kleiner Schemen löst sich aus der Menge und rutscht hindurch, er ist zu schnell, als dass man Einzelheiten erkennen
könnte.
Der Riss erzittert kurz und beginnt, sich zusammenzuziehen.
Die Bewegungen werden schneller, panischer.
Doch das reicht nicht, schon ist der Riss wieder verschwunden.
Es ist wieder stockfinster. Man sollte nichts sehen, tut es aber doch. Es scheint zumindest so.
Dieser Ort ist nicht gesund, Zeit zu gehen.

 


***



Wie in allen Kulturen gibt es auch in Universum 3 einen Ort, an dem die Götter wohnen.
Dieser Ort hat naturgemäß eine lange Geschichte und wurde in vielen Gedichten und Liedern besungen.
Das Problem: In Universum 3 gibt es eine enorme Vielfalt an Kulturen, Religionen und damit auch Göttern, oftmals auch innerhalb eines Landes oder sogar einer einzigen Stadt.
Dies führte zu einer gewaltigen Menge an Differenzen, vom abwertenden Blick bis hin zum ausgewachsenen Krieg [Wobei es häufig vorkam, dass Ersterer Letzteren verursachte.] zwischen mindestens zwei Großreichen.
Meistens endeten diese Differenzen so, dass man sich am Ende irgendwie einig wurde. Ob diese Einigung aus einem Kompromiss bestand, oder einfach daraus, dass der Gewinner dem Verlierer seine Meinung aufzwängte, spielt ja eigentlich keine Rolle.
Doch selbst wenn man beispielsweise auf die Idee gekommen war, dass man ja eigentlich denselben Gott unter einem anderen Namen anbete oder sogar so fortschrittlich war, ausnahmslos alle Götter und Religionen zu dulden, blieb noch ein Punkt offen, der weiterhin zu Streitigkeiten führte:
Der Ort, an dem der Gott/die Götter überhaupt lebten.
Zu der Zeit, als sich diese unbedeutende Frage zu einem gewaltigen Konflikt auszudehnen drohte, beschloss man in ungewöhnlicher Weitsicht und Vernunft, etwas dagegen zu unternehmen.
Es wurde eine Kommission ins Leben gerufen, jede Religion, jede Glaubensgemeinschaft durfte einen Abgesandten schicken.
Nach mehreren Tagen konnte man sich endlich auf ein Ergebnis einigen. Man hatte gemeinsam einen Ort festgelegt, an dem die Götter von nun an offiziell zu wohnen hatten.
Die bis an die Zähne bewaffnete Öffentlichkeit trat murrend ein paar Schritte von der jeweiligen Grenze zum Nachbarland
zurück und eine Woche später war die ganze Sache schon wieder so gut wie vergessen. Doch es gab noch ein Problem.
Die Konferenzteilnehmer hatten an Nichts gespart und ihre wildesten Fantasien hervorgekramt, um das Heim der Götter zu beschreiben.
Die Grundsubstanz für den göttlichen Wohnraum bestand aus rosa Wolken, die nach Hähnchen schmeckten…
Und das war erst der Anfang.
Von daher ist es kaum verwunderlich, dass es knapp einen Monat nach der Konferenz massenhaft Steinplatten regnete. [Und zwar jedem Konferenzteilnehmer genau auf den Kopf. Bei den Tafeln handelte es sich um jeweils vier Zentner feinsten Marmors. Die Konferenzteilnehmer konnten von daher bei der nächsten Abstimmung selbst als Stimmzettel fungieren, auch wenn es sie vermutlich kaum getröstet hätte.]
Diese hatten an allen Orten auf der Welt die gleiche Inschrift:
  „IHR IDIOTEN WIR KONNEN HAHNCHEN UND WOLKEN NICHT MEHR SEHEN IN ECHT LEBEN WIR IN EINEM SCHONEN GARTEN ABER WO DER IST VERRATEN WIR NICHT
PS ENTSCHULDIGT DIE KURZE NACHRICHT ABER MARMOR IST WIRKLICH TEUER HEUTZUTAGE
DIE GOTTER“
Nachdem einige Leute es nicht lassen konnten, sich über fehlende Punkte und Kommas aufzuregen, stand nach einigen kurzen Ketzereiprozessen verschiedenster Art [Jedoch immer mit Todesfolge] der Annullierung des geschlossenen Vertrages über den Wohnort der Götter nichts mehr im Wege.
Stimmen, die eine Diskussion darüber anregend wollten, wo sich dieser Garten denn nun eigentlich befände, wurden relativ schnell zum Schweigen gebracht.
Auch wenn Marmor teuer war, eine halbe Tonne Granit konnte ebenfalls recht wirkungsvoll sein.
Von dieser Zeit an wohnten die Götter also ganz offiziell in ihrem Garten.
Natürlich gab es dort auch Tempel und große Prachtbauten aus Marmor, [Von einem besonders großen Tempel stand allerdings nur noch das Grundgerüst. Ein kleiner Hinweis: Einst war er mit ca. 200 Kg schweren Marmorplatten verkleidet gewesen…] in denen sich die Götter trafen, um sich gegenseitig zu beleidigen oder das Leben einiger Menschen mit vereinten Kräften so richtig zu versauen.
Ein relativ junger Gott war Rscht. Er war ein entfernter Neffe von RSCHT-SCHRUMM, dem Gott der Gischt und wogenden Brandung, doch leider beschränkte sich Rschts Zuständigkeit auf Kleinstwellen, die gegen einen dreckigen Hafenkai schwappten.
Rscht spazierte in einer der äußeren Gegenden des Gartens, um allein zu sein. Er genoss das frische Gras, das seine nackten Füße kitzelte, roch an der ein oder anderen roten Blüte, die sich ihm vom Wegesrand entgegen reckte und lauschte dem Zwitschern der Vögel. Er ging, im Gegensatz zu seiner normalen Haltung [Gesenkter Blick, schlurfend, bloß nicht auffallen] einigermaßen fröhlich und entspannt, denn die anderen Götter kamen fast nie hierher. Sie verließen nur ungern die Tempel, denn genau dort trafen die leckeren Opfergaben [Oder auch „leckeren“ Opfer, wenn es sich um eine eher altmodische Religion handelte, in denen ältere Männer mit gewissen Schwierigkeiten das Sagen hatten] ein und konnten direkt gierig in Empfang genommen werden.
Rscht zog sich oft hierher zurück, denn die anderen Götter lachten ihn ständig aus.
Wegen seiner geringen Macht, wegen seiner kaum vorhandenen Anhänger oder weil er in der Stadt Vacorta wieder das sanfte Gluckern verschmutzten Wassers bei der letzten Fuhre Kleinstwellen vergessen hatte. Doch im Garten erinnerte er sich immer wieder daran, dass er schließlich ein Gott war und damit jedem Sterblichen überlegen.
Momentan quälten ihn die Minderwertigkeitskomplexe sogar hier, denn einer der unverschämten Sterblichen hatte es gewagt, einfach seinen kleinen Tempel in Vacorta planieren zu lassen.
Das schlimmste war ja, dass er nur mit Tränen in den Augen zugesehen hatte. Wenn er erst einmal an seine Großbuchstaben gekommen war, würde sich das alles ändern.
Vor RSCHT dem Vernichter würden sie alle zittern, niemand würde es mehr wagen… Direkt vor Rschts Nase klaffte plötzlich das Universum auf. Er sah für den Bruchteil einer Sekunde eine unglaublich dunkle Dunkelheit, dann sprang ihm schon etwas tentakeliges ins Gesicht und glitt durch seine Nasenlöcher tief in den göttlichen Kopf hinein. Das Gehirn erkannte dank jahrelanger Erfahrung einen stärkeren Gegner, wenn es einen traf, und verkroch sich so weit wie möglich ins Rückenmark.
Der Rscht, der wenige Minuten später zielstrebig gen Tempel schritt, war verändert. Sein Gang war aufrecht und stolz, fast schon arrogant und kurz nachdem er den größten Tempel betreten hatte, waren alle Augen und sonstigen göttlichen Sinnesorgane auf ihn gerichtet. [Er hatte kurzerhand die geopferten Speisen vor die Türöffnung geworfen, somit hatten die Götter plötzlich sowieso nichts anderes mehr zu tun gehabt, als ihn wütend anzustarren.] Mit bösartig funkelnden Augen suchte er sich einige Verbündete und begann eine Hetzrede gegen einen bestimmten Sterblichen, der es wagte, die Götter herauszufordern. Normalerweise hätte man ihn ausgelacht, aber dieses Mal…

 


***



Das Reich Vacorta war ein relativ durchschnittliches Königreich. Es war relativ groß, relativ wohlhabend und relativ mächtig,
jedoch gab es stets eine unangenehm große Menge anderer Reiche, die ähnliche Ausmaße hatten und penetrant genug störten, um eine Weltherrschaft der Vacortaner zu verhindern.
So existierte Vacorta wie alle anderen großen Reiche:
Im Prinzip friedlich, jedoch voller Verachtung für alle kleineren Länder und voller Verachtung und Misstrauen für alle ähnlich großen Länder.
Seinen Reichtum gewann Vacorta vor allem durch den Handel, das ganze Land war mittelmäßig fruchtbar und es gab eine ganze Menge mittelmäßig fähiger Handwerker, dazu kam die exzellente Lage mit einer langen Küstenlinie direkt am Innenmeer. [Für die Nordseite des Landes, am Außenmeer gelegen, interessierte sich natürlich niemand.]
Das größte [weil einzige] wirtschaftliche und kulturelle Zentrum war die Hauptstadt Vacorta mit ihrem großen Handelshafen und ihrer vergleichsweise guten Straßenanbindung. [Diese führte zu dem bekannten Sprichwort: Wer denkt, alle Straßen führen nach Vacorta, ist ein Idiot, aber es gibt eine Menge Straßen die dies wirklich tun“, oft begleitet von Zusätzen wie „Glaub mir mein Sohn“, „Wie schon mein Großvater immer sagte“ usw.]
Im Zentrum der Stadt stand der riesige Königspalast, der mit seinen hohen Türmen schon von weit her sichtbar war.
Der Palast wies mehrere Besonderheiten auf:
Zum einen war er innen deutlich kleiner als außen. Die Vacortaner waren ein äußerst praktisch denkendes und vor allem sparsames Volk. [Immerhin wurde der Palast durch Steuergelder finanziert.] Sie erkannten zwar an, dass ein Palast in einer Weltstadt einfach nicht fehlen durfte, konnten sich aber beim besten Willen nicht vorstellen, wozu ein König zwanzig Schlafzimmer benötigte. Das ganze galt auch für Badezimmer, Gästezimmer, usw. Als Folge dieses vernünftigen Denkens waren die Türme und andere große Teile des Palastes von Innen gar nicht begehbar, die Innenräume beschränkten sich auf die Ausmaße eines mittelgroßen Wohnhauses.
So diente der Palast nur dem Zweck, Ausländer zu beeindrucken, was er seit vielen Jahren äußerst zuverlässig tat.
Die zweite Besonderheit war der Eingang des Palastes, es gab nämlich keinen. Vor ungefähr dreißig Jahren waren die Bürger von Vacorta die Marotten ihres Königs leid gewesen und hatten kurzerhand den einzigen Eingang zugemauert. Inoffiziell wusste natürlich jeder über die wahren Hintergründe Bescheid, doch offiziell ging man von einem dummen Maurer aus, der am falschen Gebäude gemauert hatte. Da vom König niemals eine Beschwerde kam, [Die einzigen Fenster des Palastes zeigten in den Innenhof.] konnte man mit gutem Recht davon ausgehen, dass er mit dieser Baumaßnahme durchaus zufrieden war. Großzügigerweise schleuderte ein ausrangiertes Katapult aus dem letzten Krieg einmal wöchentlich eine Ladung Lebensmittel in den Innenhof, niemand sollte dem Volk von Vacorta unterstellen, es kümmere sich nicht aufrichtig um seinen König.
Auch für das entstandene Regierungsvakuum fand man schnell eine praktikable Lösung
Es wurde ein Rat gegründet, bestehend aus allen Adligen der Stadt. Dieser tagte einmal wöchentlich und entschied über alle wichtigen Belange von Vacorta. Wenn also nicht irgendjemand ein persönliches Interesse an einer bestimmten Sache hatte, wurde alles sich selbst überlassen.
Mit dieser Politik hatte man die letzten drei Jahrzehnte ausgesprochen gut überstanden und sah deshalb keine Notwendigkeit, etwas an der Regelung zu ändern.
Einer dieser Adligen war Don Raoul. Er war ein gewissenloser Geschäftsmann, der es durch seine menschenverachtenden Geschäftsmethoden geschafft hatte, sich in den Adelsrat einzubringen. Dabei war er kein Einzelfall, ungefähr die Hälfte der Ratsmitglieder entstammte dem so genannten „Geldadel“.
Dank einer alten Regelung, die seit dem „Rückzug des Königs aus dem öffentlichen Leben“, wie man das Zumauern der Tür nannte, war es jedem Geschäftsmann möglich, einen Sitz im Adelsrat zu erhalten:
Ab einer gewissen Höhe des Vermögens wurde man, anstatt nur von sich selbst, auch von den anderen Adligen als einflussreich und bedeutend genug anerkannt, um die Geschicke der Stadt und des Reiches aktiv mitzugestalten.
Der alte Reichsadel spielte bei den Regierungsgeschäften nur eine untergeordnete Rolle. Zwar konnte man ihnen ihre Ländereien, den Adelstitel und damit den Sitz im Rat nicht wegnehmen, jedoch waren die meisten Vertreter des Reichsadels ihren kapitalistischen Ratskollegen meilenweit unterlegen, was Geschäftssinn, Intelligenz und Verschlagenheit anging.
Die alten Barone hatten praktisch keinen Einfluss im Rat, sie wurden von den neureichen Dons ignoriert oder für deren Zwecke benutzt, meistens ohne es zu bemerken.
Don Raoul hatte seinen Titel schon seit über zehn Jahren und gedachte auch, ihn weiterhin zu behalten.
Viele Geschäftsmänner und sogar andere Dons, die ihm in die Quere gekommen waren, lebten nun am Rande der Armut oder meditierten in ihrem Grab über den Fehler, Don Raoul in die Quere gekommen zu sein.
Manche Leute sagten Don Raoul sogar nach, er wolle der nächste König von Vacorta werden, allerdings taten sie dies höchstens sehr leise und auch nur im Kreis ihrer engsten Freunde. [Und das nicht ohne Grund. Es gilt als gesichert, dass ein alter Mann eine Katze besaß. Das ist soweit nicht gerade ungewöhnlich, jedoch trug diese Katze den Namen Raoul. Wie Katzen nun mal so sind, machte auch Raoul alles, nur nicht das, was sein Herrchen von ihm verlangte. So schimpfte der alte Mann auf einer belebten Straße äußerst laut und unflätig auf seinen Kater, bezeichnete ihn sogar als räudige Missgeburt.
Am nächsten Tag saß der alte Mann in einer großen Blutlache auf den beiden Bänken seines kleinen Hauses. Die eine befand sich drinnen am Esstisch, die andere stand draußen vor der Tür. Inmitten all der abgehackten Körperteile lag ein Zettel mit der Aufschrift: „ Raoul lässt sich so etwas nicht bieten.“
In den nächsten Wochen wurde viel über diesen Vorfall geredet, allerdings beschränkte sich das Gerede auf die Gefahr, einen rachsüchtigen Kater zu halten und die unglaublichen, aber brutalen Fähigkeiten der modernen Hauskatze. Der Name Raoul wurde nach den Ereignissen nur noch mit äußerster Vorsicht ausgesprochen.]

Momentan saß Don Raoul jedoch relativ harmlos in seinem Wohnzimmer in einem großen, purpurroten Ohrensessel.
Er war ein großer, schlanker Mann, wirkte fast schwächlich.
Dieser Eindruck wurde vom stechenden Blick, der sich über eine lange Hakennase ausbreitete, sofort zunichte gemacht. Gerahmt von einem kleinen Spitzbart und tadellos pomadisiertem, pechschwarzen Haupthaar wirkte der Don äußerst gefährlich, man sah ihm seine Macht und Kompromisslosigkeit förmlich an.
Im Kamin knisterte ein großes Feuer, das anstatt Behaglichkeit nur Wärme und ein paar fliegende Funken in dem großen, gemauerten Raum verbreitete. Die Wanddekoration beschränkte sich auf diverse Waffen und Schilde, auf denen das Familienwappen prangte.
Es klopfte.

„Was?“, erklang die schneidende Stimme des Don.
  „Ich bringe Euch Wein, Don.“, hörte man eine Stimme dumpf durch die Tür antworten.
  „Tritt ein.“
Die eisenbeschlagene Tür aus Ebenholz schwang trotz ihres Gewichts ohne das geringste Geräusch in ihren perfekt geölten Angeln auf und James, [Natürlich war sein Name nicht James, Butler namens James gibt es nur in Filmen und Büchern. Doch der Don hatte ganz konkrete Vorstellungen davon, wie seine Welt aussehen sollte und man tat gut daran, diese Erwartungen zu erfüllen.] Raouls persönlicher Diener trat ein, ein Glas Wein auf einem Tablett in der Hand.
  „Schlechte Neuigkeiten?“, fragte der Don.
  „Allerdings.“ James war es sichtlich unangenehm, dem Don schlechte Nachrichten überbringen zu müssen, obwohl er keinerlei Strafe zu fürchten hatte. Der Don war schließlich nicht blöd und gutes Personal ist besonders dann schwer zu bekommen, wenn der Kopf des unfähigen Vorgängers in der Eingangshalle aufgespießt ist. Während James sich noch einmal überlegte, wie er dem Don die Hiobsbotschaft am schonendsten übermitteln konnte, nahm der Don den Wein entgegen. Er begann zu sprechen:
  „Auf der heutigen Ratssitzung war eine Veränderung der Atmosphäre zu spüren. Es fehlte an Respekt mir gegenüber, teilweise konnte man sogar fast schon von Spott und Hohn sprechen. Diese drittklassigen Geschäftsmänner und weichen Neureichen haben sich über mich lustig gemacht, als wäre ich ein Baron der alten Schule, der in seiner verfallenen Burg sitzt, während die Bewohner der umliegenden Dörfer seine Grenzsteine immer weiter verschieben, ohne dass er es merkt. [Dabei handelte es sich durchaus um eine gängige Praxis, um das Gebiet eines Dorfes oder ein privates Grundstück kostenlos zu vergrößern.
Natürlich durfte man die Steine nicht zu schnell versetzen, aber bis zu fünf Meter pro Jahr waren bei den kurzsichtigen und weltfremden Adligen durchaus möglich. Sollte der Baron zufällig einen Ausritt durch seine Ländereien machen, präsentierte man sich einfach als freundlicher Nachbar. Auf Kommentare wie: „Ich hätte schwören können, dieser kleine Tümpel gehört eigentlich zu meinem Grundstück… “ bekundete man offensichtlich sein Mitleid, in solch schweren Zeiten leben zu müssen und erwähnte die Grenzsteine, die klar besagten, dass der Tümpel auf DIESER Seite lag und nicht auf JENER. Für die alten Barone waren Grenzsteine heiliger als Tempel, auf Grenzsteine konnte man sich noch verlassen, was für Götter nicht galt. Kein richtiger Baron wäre jemals auf die Idee gekommen, dass man Grenzsteine überhaupt bewegen könne…  ]
Ich bin das reichste Mitglied im Rat, auf meinen Wink hin sterben hundert bedeutungslose Arbeiter, die diese Stadt verschmutzen. Sogar die Götter können mir nicht das Wasser reichen. Für das letzte Bauprojekt ließ ich drei Tempel abreißen, und was ist geschehen? Nichts! Weil sie feige und faul sind, diese Götter. Also, was ist so schlimm, dass du meinst, mich mit einem Glas Wein darauf vorbereiten zu müssen?“
Der Don hatte sich in Rage geredet und stand nun kerzengerade vor seinem Sessel, das Weinglas in gebieterischer Pose erhoben.
James machte ein noch unglücklicheres Gesicht, als er begann, zu berichten: „Ich fürchte, genau da liegt das Problem. Nicht, dass es keine gute Entscheidung gewesen wäre, niemand zweifelt Eure Entscheidungen an, Don! Aber es geht um die Sache mit den Tempeln. Anscheinend ist die letzten Wochen nur nichts passiert, weil sich die drei Götter sich… sich… Sie haben sich beraten, die Köpfe zusammengesteckt, sich verschworen. Gegen Euch, Don!
Eure Goldreserven haben sich in wertloses Blei verwandelt, eure Schiffsflotte wurde in einer Art Unwetter vernichtet, nur dass zwei Meter weiter schönstes Wetter herrschte. Eure Kornreserven und Bauernhöfe wurden von Ungeziefer heimgesucht… “
Der Butler holte tief Luft.
  „Ich muss berichten, dass Ihr praktisch pleite seid, Don.“
Don Raoul wurde schlagartig blass und sank wie ein nasser Waschlappen in seinen Sessel. Für einen kurzen Moment sah er alt, ungesund und schwach aus.
Doch man wurde nicht zum mächtigsten aller Dons, wenn man nicht über gewisse Qualitäten verfügte.
Nach einigen Sekunden hatte der Don seinen Schock überwunden. Das Weinglas zersprang in seiner Hand und ruinierte den sündhaft teuren Teppich, dann hatte der Don seinen Körper wieder komplett unter Kontrolle, wirkte fast noch gefährlicher und entschlossener als zuvor.
  „Komplett pleite?“, fragte er ruhig.
  „Ja. An materiellen Werten ist praktisch nichts mehr geblieben. Eure Manufakturen gibt es noch, auch die meisten Arbeiter sind noch bei Euch angestellt, abgesehen von denen, die bei den Vorfällen ums Leben kamen. Aber Ihr besitzt kein Gold und keine Handelsgüter mehr.“
Der Don überlegte kurz.
  „Wie viel wissen die anderen?“
Dies war eine durchaus berechtigte Überlegung. Sollten die anderen Ratsmitglieder vom Ausmaß der Katastrophe erfahren haben, war Don Raoul praktisch ruiniert. Ohne Vermögen gab es keinen Sitz im Adelsrat, alle Angestellten [Von denen die meisten eher Leibeigene waren] würden ihn sofort verlassen und Raoul könnte ohne Umweg betteln gehen, wobei er sicher sein konnte, die erste Nacht auf der Straße nicht zu überleben. Wer aus Verachtung versuchte, aus einer fahrenden Kutsche heraus Bettler mit einer Armbrust abzuschießen, sollte sich besser nicht alleine in ihre Gesellschaft begeben.
James setzte sofort zu einer Antwort an:
  „Das ist wohl die einzig gute Nachricht. Man hat zwar schon von ein paar Unglücken gehört, das wahre Ausmaß der Katastrophe ist jedoch noch nicht bekannt.“
  „Gut. Sorge dafür, dass die Sache nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Alle Zeugen sind zum Schweigen zu bringen, wer etwas verrät, wird sich wünschen, niemals geboren worden zu sein. [Es gibt einfach Sprichwörter, die immer wieder gerne von bedrohlichen, mächtigen Männern verwendet werden. Meistens schiebt man die Verantwortung der Hölzernen Holly zu, einer sehr merkwürdigen Gottheit mit einer Vorliebe für dramatische Reden und Liebespaare vor Sonnenuntergängen.]
Ich muss wieder zu Vermögen kommen… Und ich habe auch schon eine Idee, wie.“
Der Don begann nachzudenken.
Letzte Woche hatte er in seiner privaten Bibliothek ein paar sehr interessante Papiere gefunden. Eigentlich nur Skizzen, dazu ein paar hingekritzelte Anmerkungen. Aber falls das wirklich klappen sollte… Der Don leitete sämtliche in seinem Körper vorhandene Energie ins Gehirn.
Nachdem er mehrere Minuten lang komplett ignoriert worden war, verließ der Butler schulterzuckend den Raum.
Lautlos fiel die Tür ins Schloss.


***



Langsam rumpelte der Holzkarren den Weg entlang. Die zwei Ochsen, die den Karren zogen, versanken bei jedem Schritt bis zum Knöchel im Morast und ließen kleine Matschfontänen aufspritzen. Der Regen war so dicht, dass Eike und sein Partner Grom den dichten Wald, durch den der schlammige Weg führte, kaum erkennen konnten, obwohl er keine zwei Meter vom Rand des Karrens entfernt war.
Sie waren schon seit Stunden unterwegs und wollten nichts lieber, als endlich in Vacorta anzukommen. Das lange, ungemütliche Sitzen auf dem holpernden Karren in Kombination mit dem dichten Regen trug nicht gerade zu einer Verbesserung der Stimmung bei.
Auch die Geschäftsreise war nicht gerade ein Erfolg gewesen, die kleinen Götterstatuen aus Holz hatten sich so gut wie gar nicht verkauft. Sie zeigten eine hölzerne Scheibe Brot, die in Begriff war, auf die Butterseite zu fallen, angebracht mit einem Metallstab auf einem Holzsockel.
Die Brotscheibe war das Symbol des Gottes Morpo, der sich vor allem in den unteren Schichten der vacortaschen Bevölkerung zunehmender Beliebtheit erfreute.
Morpo war der Gott der täglichen kleinen Unglücke. Viele Menschen hielten es für sinnvoll, vor überraschend aus dem ersten Stock entleerten Nachttöpfen, plötzlichen Preiserhöhungen beim Händler des Vertrauens oder eben dem klassischen Brot, das auf die Butterseite fällt, geschützt zu sein.
So verloren die ganz großen Götter wie zum Beispiel Yap mit ihren Versprechungen von Seelenheil und ewigem Leben nach dem Tod [Gerüchte sprachen sogar von einer nicht näher konkretisierten Anzahl von Jungfrauen, jedoch erröteten die Priester stets, wenn man sie darauf ansprach und stammelten uneindeutige, kurze Antworten.] zunehmend an Attraktivität, denn die Bürger von Vacorta dachten praktisch: Wenn morgens der Nachttopf eines anderen über dem eigenen Kopf entleert wird, verliert das Seelenheil schlagartig an Bedeutung.
  „Diese Reise war eine bescheuerte Idee von dir, Eike. Erst diese ewige Fahrt bis nach Pyros, dann die lange Suche nach einer Stadt. Was ist denn das für ein Land, das fast nur aus heißem Sand besteht und wo man stundenlang suchen muss, um auch nur ein kleines Dorf zu finden?“, beschwerte sich Grom, der von Anfang an gegen die Reise gewesen war.
  „Hab ein bisschen mehr Respekt vor den Leuten in Pyros. Lange bevor es Vacorta überhaupt gab, hatten sie schon eine Schrift entwickelt und wussten von den Vorzügen eines Toilettenhäuschens. Ich konnte ja auch nicht wissen, dass dort das Licht und die Sonne als Gott verehrt werden.“, verteidigte sich Eike.
  „Verehrt ist ja wohl untertrieben! Man hat uns fast aufgespießt, als sie herausbekamen, dass wir einen anderen Glauben verbreiten wollten.“
  „Ach, sieh doch nicht alles so negativ. Die Ausrede mit den hölzernen Brotspezialitäten aus Vacorta hat doch funktioniert. Wir haben zwar nichts verkauft, aber wir sind aus Pyros entkommen und in zwei Stunden sitzen wir gemütlich vor einem Feuer am Kamin.“
Doch Grom ließ sich seine schlechte Laune nicht so schnell ausreden: „Pah! Ein riesiges Loch hat das in unsere Finanzen gerissen. Die Reise war teuer, wir haben kein Geld gemacht und zu Hause stand das Geschäft die ganze Zeit still. Dämliche Pyroaner. Möge Morpo sie alle strafen! Ein Licht- und Sonnengott, tss. Wie kommt man überhaupt auf die Idee, eine Qualle zu verehren?“ [Diese Bemerkung bedarf wohl einer ausführlicheren Erklärung. Nicht nur in unserem Universum interessiert man sich für das Licht an sich und die Frage, woraus es besteht. Auch in Universum 3 entwickelte sich ab einem bestimmten Wissensstand ein Interesse für die Natur und ihre Funktionsweise.
So fand der Alchemist Strahlemann zufällig während eines Versuches, der natürlich den Zweck hatte, aus Blei Gold zu erzeugen, heraus, dass Lichtstrahlen keine richtigen Strahlen sind. Sein Interesse war geweckt und während weiterer Experimente, bei denen ungewöhnlich viele Flamingos (wegen ihrer Fähigkeit, so lange auf einem Bein zu stehen) den Tod fanden, kam er zu dem Ergebnis, dass das Licht in kleine
Portionen aufgeteilt durch die Welt flog. Er nannte diese kleinen Portionen „Brocken“. Ungefähr hundert Jahre später hielt ein anderer Alchemist Herrn Strahlemann für einen ausgemachten Schwachkopf und überprüfte neben seinen Blei-Gold Experimenten dessen Theorie.
Er konnte sie nicht widerlegen, machte aber die erstaunliche Entdeckung, dass Licht anscheinend ähnlich wie Wasserwellen „wabbelt“, wie er es nannte. Die Bevölkerung stand nun vor der Aufgabe, diese beiden Theorien miteinander in Einklang zu bringen.
Anstatt jedoch irgendwelche merkwürdigen Quantentheorien und Wellenfunktionen zu entwickeln, packten sie die Sache mit gesundem Menschenverstand an.
Sie wussten: Licht ist irgendwie transparent und besteht aus wabbeligen Brocken. Niemand musste lange überlegen, es gab schließlich nur eine logische Schlussfolgerung: Das Licht ist eine Art Qualle.
Da diese Erklärung so unglaublich einleuchtend war, verbreitete sie sich sehr schnell in Vacorta und dem umliegenden Land.
Um bloß nicht als dumm und ungebildet zu gelten, wusste kurz darauf jeder darüber Bescheid.]
So stritten die zwei Händler munter weiter, während die Ochsen sich damit abmühten, den Karren durch den immer tiefer werdenden Schlamm zu ziehen. Kurze Zeit später fand die Reise jedoch eine plötzliche Unterbrechung.
Quer über dem schmalen Weg lag ein großer Baum, dem merkwürdigerweise alle Blätter fehlten, und blockierte die Weiterfahrt.
Eike und Grom sprangen vom Karren, um das Hindernis zu untersuchen.
  „Das fehlt mir gerade noch. So ein dämlicher Baum! Guck doch mal, wie groß und schwer der ist. Den kriegen wir niemals weg. Verdammtes Holzding!“, machte Grom seinem Ärger Luft. Eike setzte gerade dazu an, seinem Partner zuzustimmen, als der Baum überraschend zwei große, gelbe Augen öffnete.
Knarrend und krachend richtete er sich auf, wobei einige kleinere Zweige abbrachen, und begann mit tiefer, grollender Stimme zu sprechen:
  „Mir reicht es langsam! Ihr verdammten Menschen!
Guckt es euch an. All meine Blätter sind ausgefallen. Habt ihr den Regen mal probiert?
Nein? Solltet ihr auch nicht, der ist saurer als eine Zitrone, alles nur wegen euch. Da will man hier einmal in Ruhe ein Nickerchen machen und schon wird man angepöbelt und als verdammtes Holzding bezeichnet. Genug ist genug!
Ihr versucht uns zu töten… Doch es klappt auch anders herum!“
Während Grom nur sprachlos da stand und sich über einen sprechenden Baum wunderte, öffnete Eike bereits den Mund, er wollte den Säuregehalt des Regens überprüfen.
Dazu kam es nicht mehr.
Als der Baum mit zwei seiner gewaltigen Äste ausholte, wünschten sich Grom und Eike plötzlich, sich doch für Yap entschieden zu haben. Selbst ohne Jungfrauen erschien ein Leben nach dem Tod plötzlich äußerst attraktiv. Doch dafür war es zu spät.


***



Die Hitze flirrte in der weiten Ebene. Der Boden bestand aus trockener, sandiger Erde, aus der sich erstaunlich viele Pflanzen der Hitze und dem Wassermangel zum Trotz erhoben.
Verschiedene Gräser, Büsche und Sträucher, Mohnblumen, einige kleinere Bäume und natürlich Liven dominierten die Szenerie.
So weit das Auge reichte, bis zu den fernen Bergketten, die trotz der enormen Hitze eine kleine Kappe aus Eis und Schnee trugen, erstreckten sich die Livenplantagen. In scheinbar endlosen Reihen standen die kleinen Bäume mit ihrer rissigen Borke, dem knotigem Stamm und den schmalen, ledrigen Blättern.
Bald stand die Ernte an, die Livenkerne waren schon deutlich zu erkennen und gerade dabei, sich von grün zu schwarz zu färben, erst dann waren sie erntereif.
Es gab kaum Flächen, die die nicht ordentlich mit Livenbäumen bepflanzt waren. Mal ein kleiner Tümpel, ein paar morastige Flächen voller Schilf und natürlich Feldwege, selten sogar etwas, das man mit viel gutem Willen als Straße bezeichnen konnte.
Jeder, der in dieser Region etwas auf sich hielt, war Livenbauer.
Manche hatten sich auf das wertvolle Öl der Livenkerne spezialisiert, andere hingegen füllten die Kerne in Gläser, am Ende jedoch landete fast alles in der Hauptstadt und wurde für unverschämte Mengen an Geld verkauft, von denen die Livenbauern kaum etwas zu Gesicht bekamen.
Dabei war der Beruf des Livenbauers keine einfache oder ungefährliche Aufgabe.
Seine eigene Existenz durch Landwirtschaft zu finanzieren, ist selten ein leichtes Unterfangen, doch bei Livenbauern ist die Anzahl an Arbeitsunfällen außergewöhnlich hoch.
Man vermutet, dass die Livenbäume nicht natürlichen Ursprungs sind, oder zumindest in irgendeiner Weise magisch manipuliert wurden. Niemand traute der Natur eine solche Erfindung zu.
Das wichtigste Hilfsmittel für die Ernte war nicht etwa der Korb, in dem die geernteten Livenkerne gesammelt wurden, sondern ein Objekt, dass einfach nur „Der Schild“ genannt wurde. Dabei handelte es sich um eine große, möglichst dicke Platte aus herausgebrochener Livenbaumborke, versehen mit Löchern, durch die man seine Finger stecken konnte.
Die edlere Variante war aus poliertem, geöltem Livenholz und wies auf der Rückseite einen kleinen Griff auf.
Mit diesem Schild schützend vor das Gesicht gehoben, näherte man sich bei der Ernte dem Livenbaum.
Sobald man die nicht einmal aprikosenkerngroße, steinharte Frucht berührte, explodierte sie. Dabei verschwand irgendwie [Noch niemand konnte es beobachten, denn es geschieht einfach zu schnell. Da man davon ausging, dass Kolibris extrem schnelle Vorgänge wahrnehmen können (Niemand war auf die Idee gekommen, der wahnsinnig schnelle Flügelschlag dieser Vögel könne ohne bewusste Anstrengung des Denkapparates erfolgen), hatte man versucht, sie darauf zu trainieren, eine Art Bilderserie von einer Livenkernexplosion anzufertigen. Ich erspare die Details und sage nur so viel: Es hat nicht geklappt.] das harte, schwarze Objekt und eine deutlich größere Frucht von weicherer, saftiger Konsistenz [Trotzdem wurde auch diese weiche Frucht als Livenkern bezeichnet] erschien. Diese wurde jedoch bei der Explosion willkürlich in irgendeine Richtung geschleudert, und das mit einer Geschwindigkeit, dass man in der ersten Sekunde anhand einer blauen fluoreszierenden Spur in der Luft die Flugroute der Frucht nachvollziehen konnte.
Traf die Frucht den unachtsamen Bauern ins Gesicht, brachen zum Beispiel Wangenknochen, traf sie das Auge, konnte man dieses danach von der inneren Rückseite des Schädels abschaben und versuchen, ein auf Papierdicke gequetschtes Gehirn darunter zu befreien, was aber bisher noch nie gelungen war.
Auf einem der breiteren Wege, in möglichst großer Entfernung zu den Liven an beiden Wegrändern, bewegten sich drei skurrile Gestalten mit dem unsicheren Schritt derjenigen, die nicht genau einschätzen können, welche Gefahr ihnen droht.
Die erste Person war ein Esel. [Falls Sie jemals auf einen angewiesen waren, dürften Sie wissen, dass es sich bei einem Esel auf jeden Fall um eine Person handelt. Viele Esel weisen sogar eine deutlich größere Menge Charakter auf als der durchschnittliche moderne Mensch, was zugegebenermaßen keine all zu große Leistung ist.] Der Esel klammerte sich verzweifelt an der Klippe der „besten Jahre“ fest, um nicht in den Abgrund des Alters zu stürzen. Er war zwar noch recht fit, aber sturer denn je, auch sein Fell war stellenweise ziemlich dünn und sah wie von Motten zerfressen aus. Vor allem war der Esel jedoch schmutzig und von einer dicken Schicht feinen Staubes überzogen. Auch er hatte schon Erfahrungen mit reifen Livenkernen gemacht.
Hätte er es vermocht, logisch zu denken, wäre er in Anbetracht der großen, blauen Flecken an entsprechenden Stellen ausgesprochen froh darüber gewesen, nicht wie ein Mensch ständig sitzen zu müssen.
Dieser Beschuss war etwas gewesen, das dem Esel überhaupt nicht gefallen hatte. Jetzt bewegte er sich nur noch halb so schnell wie zuvor und legte immer wieder kleine Pausen ein, um nach links und rechts zu spähen. Die hinterhältigen Schützen konnten schließlich jederzeit wieder auftauchen.
Auf dem Rücken des Tieres ritt ein nicht weniger schmutziger Mann, den des Esels übermäßige Vorsicht zur Weißglut trieb.
  „Esel! Du hirnloser, haariger Fußabtreter! Es sind Bäume, keine Kinder mit Steinschleudern! Solange du auf dem verdammten Weg bleibst, kann dir nichts passieren.
Und jetzt bewegt dich endlich, sonst kannst du heute Nacht unter einem Livenbaum anstatt in einem Stall schlafen, und ich glaube, das willst du wirklich nicht!“
Doch der Esel verstand offensichtlich nichts davon oder täuschte dies zumindest vor, denn er reagierte nicht im Geringsten auf die Worte des Mannes und schlich ebenso nervös wie vorsichtig weiter voran.
Selbst der dünne Stock in der Hand des Mannes, der, offensichtlich um per kinetischer Argumentation das Verständnis des Esels zu verbessern, auf dessen Hinterteil hinab fuhr, bewirkte rein gar nichts. Trotzdem gab der Mann nicht auf.
Er verfluchte und beschimpfte den ängstlichen Esel ohne Unterlass. Überhaupt machte der Mann einen etwas merkwürdigen Eindruck. Sein auffälligstes Bekleidungsstück war ein großer Sombrero, an dem verschiedenste Zähne und kleinere Knochen hingen, die bei jedem Schritt des Esels ein leises Klackern und Rappeln erzeugten, wenn sie gegeneinander stießen.
Im kühlenden Schatten des Hutes befand sich ein Gesicht, bei dem nicht klar erkennbar war, ob der Eigentümer von der Sonne gebräunt oder einfach nur schmutzig war. Drahtige, mittellange Haare, buschige schwarze Augenbrauen und ein Bart, der je nach Stelle zwischen drei Tagen und zwei Wochen erfolgreichen Wachstums schwankte, ließen sowieso nicht viel Haut erblicken. Insgesamt wirkte das Gesicht sehr ungepflegt. Wären nicht die graublauen Augen, die zwar listig, jedoch nicht bösartig oder verschlagen drein blickten, gewesen, hätte man den Mann wahrscheinlich für einen Banditen oder Schlimmeres gehalten.
Der mit einem leichten, aber deutlich erkennbaren Bierbauch ausgestattete Körper des Mannes wurde fast komplett von einem alten, abgenutzten Poncho bedeckt, dessen Erscheinung irgendwo zwischen Sonnenblende, Kleidung und ausrangiertem Teppich einzuordnen war. Den Abschluss des Reiters bildeten ausgetretene Lederstiefel mit riesigen Sporen aus billigem Blech, die in der Sonne glänzten. Am linken Fuß bohrte sich langsam aber geduldig ein großer Zeh, umhüllt von einer vermutlich roten, schmutzigen Wollsocke, seinen Weg in die Freiheit.
  „Jetzt hör endlich auf zu schimpfen, du alter Narr“, sprach plötzlich eine Stimme, scheinbar aus dem Nichts kommend. „Ich versuche hier zu schlafen, aber bei deinem Gekeife wird ja jedes Waschweib blass, und ich kriege kein Auge zu.“
Die zeternde Stimme entsprang offensichtlich dem Poncho des Mannes. Prompt kam die Antwort:
  „Du hast doch seit Jahren kein Waschweib mehr gesehen, du dreckiger Lumpen. Und Augen besitzt du auch nicht. Wenn ich nicht fluchen soll, muss ich mir etwas anderes überlegen, um den Esel anzutreiben. Vielleicht würde es helfen, vor ihm einen Teppich auszubreiten, auf dem er besser laufen kann?
Du würdest dich optimal dazu eignen, Poncho.“
  „Ist ja gut, alter Fettklumpen. Ich bin schon ruhig. Alles was ich will, ist vor Einbruch der Dunkelheit im nächsten Dorf anzukommen und mich einer unschuldigen Bluse im Gasthof ein wenig anzunähern. Noch eine Nacht hier draußen, und ich bestehe nur noch aus den matschigen Flecken, die die Livenkerne hinterlassen.“
  „Die Bluse ist danach so dreckig, dass sie keine Frau der Welt mehr tragen möchte. Wenn du also nicht dafür verantwortlich sein willst, dass man sie mit angeekeltem Gesicht fort wirft, solltest du deine Fransen von ihr lassen. Und was die Flecken angeht, glaube ich nicht, dass…“
So setzten die drei skurrilen Gestalten in eitler Zwietracht ihren Weg fort und erreichten endlich zur gemeinsamen Freude ein kleines Dorf, das plötzlich hinter einem Hügel, bepflanzt mit Livenbäumen, auftauchte.
Das Dorf bestand aus nicht einmal fünfzehn Häusern einfachster Bauweise. Jeder Tourist hätte es als ein „pittoreskes“ Dorf, das „typisch für die Gegend“ sei, bezeichnet. Vermutlich wäre er sogar dem Irrtum erlegen, die Bewohner als „einfache, gute Menschen“ einzustufen.
Bis auf die zwei größten Häuser des Dorfes aus sonnengebleichtem Holz und Flussstein waren alle Gebäude einstöckig und weiß getüncht, zumindest in der Theorie.
Auch praktisch waren sie weiß getüncht, nur war das offensichtlich vor sehr, sehr langer Zeit geschehen. Vermutlich war das Tünchen von Hauswänden für die Dorfjugend eines der mysteriösen Dinge, von denen Großväter immer schwärmten, die aber einfach keinen Sinn ergaben. Dazu gesellten sich noch diverse, undefinierbare Spritzer und teilweise sogar Einschusslöcher, verursacht von den allgegenwärtigen Livenkernen.
Als der Mann, der Poncho und der Esel den staubigen Platz in der Mitte des kleinen Dorfes erreichten, wurden sie bereits von einer Menschenmenge erwartet.
Misstrauisches Gemurmel wurde laut, doch der Mann auf dem Esel warf sich in Position, als wäre er ein lebendiges Kriegerdenkmal auf einem Schlachtross.
Das Gemurmel wurde lauter.
  „Was macht er da? Kann er nichts sehen?“
  „Doch, bestimmt. Ich glaube, er streckt sich, weil sein Rücken weh tut.“
  „Vielleicht eine fremdländisches Begrüßungsritual?“
Der Mann bemerkte, dass seine Vorstellung nicht ganz die gewünschte Wirkung erzielte. Deshalb zog er sich schwungvoll den riesigen Sombrero vom Kopf und versuchte sich an einem gebieterischen Blick.
  „Was tut er denn jetzt? Ist ihm warm?“
  „Nein, nein. Ich hab‘s. Er will Geld, deshalb hält er den Hut so merkwürdig!“
  „Ja, das muss es sein! Und mit diesem Blick will er den Schuldner dazu bewegen, vorzutreten. Bestimmt hat der junge Mathrim wieder in einem Nachbardorf Schulden gemacht.“
Doch als nichts weiter passierte, verstummte die Menge. Nach einer unbehaglichen Minute absoluter Bewegungslosigkeit auf beiden Seiten wurde sich der Reiter der Peinlichkeit seiner Situation bewusst.
  „Nun… “, räusperte er sich. „Habt ihr so etwas wie einen Bürgermeister?“
Durch den Druck vieler Ellenbogen und Hände wurde ein kleiner Mann nach vorne katapultiert, obwohl er mit Händen und Füßen versuchte, genau dies zu verhindern.
Er war, wie alle anderen auch, in einfache Baumwolle gekleidet, jedoch deutlich kleiner als die meisten anderen Männer. Dies schien er mit einem gewaltigen, an den Seiten herabhängenden Schnauzbart kompensieren zu wollen. Trotzdem wirkte er äußerst unsicher und man sah ihm an, dass er nichts lieber wollte, als in den Schutz der Menge zurückzukehren.
  „Mein Name ist Samuel und ich bin der Vertreter der örtlichen Livenkerngruppe, einer freiwilligen Interessengemeinschaft aus… “
Plötzlich verstummte er. Alle Köpfe drehten sich zu einem der beiden großen Gebäude herum, aus dem jetzt ein weiterer Mann trat. Er trug einen Zylinder und war auch sonst deutlich feiner gekleidet als all die Livenbauern auf dem Platz.
Seine Haut war blass, sie wirkte wie Wachs und seine blassen Augen fixierten den Neuankömmling mit einem misstrauischen Blick. Seine Ausdrucksweise war gepflegt, fast vornehm, doch seine Stimme klang schneidend und befehlsgewohnt, als er sich direkt vor den zurückscheuenden Esel stellte und fragte:
  „Wer bist du? Was hast du hier zu suchen?“
Da der Esel nichts erwiderte, bleib es an dem Reiter hängen, eine Antwort zu geben. Das war genau das, worauf er gewartet hatte.
  „Mein Name ist Pablo Paolo Pérez“, verkündete er stolz und warf einen erwartungsvollen Blick in die Runde.
Die Dorfbewohner starrten ihn mit großen Augen an.
Aus einer der hinteren Reihen hörte man ein „Na immerhin!“.
Als Pablo klar wurde, dass man ihn nicht kannte, stieß er ein gequältes Seufzen aus, um allen klarzumachen, was für ungebildete Landeier sie doch seien, bevor er weiter redete:
  „Es wundert mich, dass ihr noch nicht von mir gehört habt! Ich bin meines Zeichens patentierter Monsterjäger, und zwar einer der besten, wenn nicht gar der beste, möchte ich in aller Bescheidenheit sagen. Ratten und Heuschrecken sind für mich eben so wenig ein Problem wie Drachen, Nilifanten oder wilde Oger.“ Er senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern.
  „Sogar Integrale habe ich schon erfolgreich getötet.
Zwei ausgewachsene Exemplare auf einen Streich! Könnt ihr euch das vorstellen?“
In der Menge flüsterte man bewundernd, nachdem man sich darauf geeinigt hatte, ob der komische Mann nun „Integrale“ oder „Exemplare“ erledigt hatte. Nachdem der örtliche Klugscheißer einige dezente Hinweise gegeben hatte, erfolgte die Reaktion des Volkes.

„Integrale! Nicht zu fassen!“
  „Ach du meine Güte… Sogar Integrale!“
„Und gleich zwei… Was für ein tollkühner Kerl.“
Man gab sich eben jede erdenkliche Mühe, so bewundernd wie möglich zu klingen. Von Integralen hatte zwar noch nie jemand im Dorf gehört, aber hier bot sich gerade die optimale Gelegenheit, so zu tun, als kenne man sich aus. So etwas konnte man sich einfach nicht entgehen lassen.
  „Waren es die schwarzen geschuppten oder die hellgrauen mit den Tentakeln?“, fragte ein älterer Mann, der sich Mühe gab, möglichst routiniert zu klingen.
Pablo blinzelte einmal kurz verunsichert, bevor er mit tönender Stimme verkündete: „Von jeder Sorte eines! Es war also besonders schwer. Ihr wisst schon, warum… “
Die Menge nickte zustimmend.
Mit einem hinterhältigen Blick ergriff der blasse Mann, der bei Pablos Ausführungen keine Miene verzogen hatte, wieder das Wort.
  „Ach, wie unhöflich von mir. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt“, sagte er süffisant.
  „Mein Name ist Bonor, ich bin der Bürgermeister dieses pittoresken Dorfes. Wir sind einfache, gute Menschen und können Euch wahrscheinlich nicht viel bieten, großer Jäger.
Doch seid Ihr herzlich eingeladen, eine Nacht in unserer Schänke zu verbringen. Falls wir Eure Dienste benötigen, kommen wir gerne auf Euch zurück.“
Trotz der untertänigen Worte lächelte der Bürgermeister überlegen und verschwand sofort wieder in dem großen Gebäude, welches eine Art Rathaus sein musste.
Pablo winkte großzügig ab, stieg von dem dreckigen Esel und begab sich, umringt von mehreren neugierigen Livenbauern, in die Schänke. Den restlichen Abend verbrachte er damit, auf Kosten anderer Leute Bier zu trinken und spannende Geschichten aus seinem Leben als Monsterjäger zu erzählen, in denen er wie zufällig immer als der einzige aufrechte Mensch in einer finsteren Welt voller Ungeheuer und verschlagener Personen erschien. Erst weit nach Mitternacht verabschiedete er sich großspurig und zog sich auf eines der kleinen, nicht besonders sauberen Zimmer zurück.
Er legte den zerfledderten Poncho ab, trieb mit dem Geruch seiner Füße sämtliches Ungeziefer aus dem kleinen Bett und warf sich anschließend genüsslich darauf, was das Bett mit einem bedrohlichen Knacken kommentierte. Es bestand aus Livenholz.


***



Einige Meilen nordwestlich der Stadt befand sich ein großes, fast ebenes Gebiet, das allgemein als Fautegé-Wüste bezeichnet wurde. Man hatte schon immer Probleme mit der Kategorisierung und Benennung dieser Gegend gehabt, [Die wahre Bedeutung des Namens ist mittlerweile in der Bevölkerung verloren gegangen. Wenn sich jemand dafür interessieren würde, könnte er mit Hilfe einiger alter Aufzeichnungen Folgendes herausfinden: Fautegé leitet sich von den drei Buchstaben VTG ab, die in diesem Fall für „Verdammt Trockene Gegend“ stehen.
Auch früher wusste man nicht so recht, wie man das Gebiet bezeichnen sollte. Im Verlauf der Geschichte ging das Wissen um diese Abkürzung verloren und es schlich sich ein Accent ein. Deshalb schob man den merkwürdigen Namen allgemein den Bewohnern des Nachbarlandes in die Schuhe, da deren verdächtig häufige Verwendung von Accents schon immer große Missbilligung hervorgerufen hatte.
(Was weniger an den Accents lag, sondern vielmehr an den Bewohnern)
Wieso man dort eine völlig unwichtige Gegend in Vacorta benennen sollte, fragte niemand.]
denn es war nicht einmal eine richtige Wüste. Über mehrere Quadratmeilen erstreckte sich praktisch nur trockenes, hohes Gras, an dem man sich ständig schnitt, wenn man nicht aufpasste. Es gab keinen einzigen Baum, nicht einmal einen Strauch, dafür aber hin und wieder größere Sandflächen, die eine Vorliebe dafür hatten, dem unvorsichtigen Reisenden ihre Beschaffenheit als Treibsand zu enthüllen. [Leider kam der Treibsand nie so recht in das Vergnügen, die Überraschung seiner Opfer zu spüren, sie sagten oft nur noch „Mmgmpf“, bevor sie vollends versanken, und dabei gab sich der Sand so viel Mühe.
Hätte man den Sand befragt, was der nächste sinnvolle Schritt in der Evolution des Menschen sein könnte, hätte die Antwort sicherlich gelautet: „Ein Mund, der auch sprechen kann, wenn er voller Sand ist.“]

Da es aber keine andere Wüste in Vacorta gab, verlieh man der Gegend widerwillig diesen Titel, schließlich musste man auf sein Image achten. Trotzdem war es den Bewohnern der Randregionen der Fautegé-Wüste nie gelungen, allgemein als „Wildes Wüstenvolk“ akzeptiert zu werden, wofür sie sich einige Jahre lang mit Herz und Seele eingesetzt hatten.
[Man nannte sie viel mehr „Trottel“, was man mit der Wahl ihres Wohnortes begründete.]
Durch die scheinbar endlosen Ebenen aus im Wind wogenden Grashalmen führte eine halbwegs sichere Straße. Sie war weder gepflastert noch sonst irgendwie befestigt, aber es gab Pflöcke, die den sicheren Weg markierten.
Das System funktionierte ganz einfach: Wo die Pflöcke nicht im Treibsand versunken waren, konnte man einigermaßen sicher entlanggehen.
Am Ende dieser Straße [Eventuell auch am Anfang, es ist im Nachhinein immer schwer festzustellen, wo man mit dem Bau begonnen hat.] erhob sich ein riesiger Brocken aus pechschwarzem, porösem Fels.
Auf diesem Felsen wiederum befinden sich die weiß getünchten, aber ziemlich dreckigen Mauern eines Klosters. Wozu in dieser Gegend drei Meter hohe Mauern nötig waren, wusste niemand so richtig. Angeblich waren sie dazu da, um den Sand abzuhalten, aber seit wann störte sich Sand an Glasscherben auf der Mauerkrone?
Sobald diese Mauern einmal überwunden waren, umschmeichelten Rasenflächen, kleine Gärten und gepflegte, kleine Gebäude das „wüsten“geplagte Auge.
In einem dieser kleinen Gärten, die durch Mäuerchen verschiedener Höhe abgetrennt waren und ein ziemlich verwirrendes Labyrinth bildeten, [Manche der Gärten waren nach den Novizen benannt, die auf ihrer langen Suche nach dem Ausgang in diesem Garten verdurstet waren.] waren nun ein kleiner Holztisch und zwei relativ unbequem aussehende Stühle aufgestellt. Der Tisch war mit kühlen Getränken und kleinen Süßspeisen gedeckt, auf den Stühlen saßen Don Raoul und der Prior des Klosters.
Sie schienen, abgeschirmt durch die in diesem Gärtchen mehr als mannshohen Mauern, eine entspannte Konversation zu führen.
Zwar konnte eine Konversation mit dem Don nie wirklich entspannt sein, doch der Prior hatte die Kunst entwickelt, nur in den Bereichen zu schwitzen, die von seiner braunen Robe aus grobem Stoff verdeckt waren. Dies tat er dafür umso intensiver.
  „Was ist eigentlich der Grund Eures Besuches, Don?“
Der Prior hatte sich endlich überwunden und die Frage gestellt, die ihn schon seit dem überraschenden Eintreffen des Don auf der Zunge brannte.
  „Ihr wollt doch nicht etwa über Euer Finanzkonzept reden, oder?“, versicherte sich der Prior. Dass der Don dem Kloster seine großzügigen Spenden verwehren könne, war die größte Sorge des Priors.
  „Oh nein, keinesfalls. Ich wollte nur um einen kleinen Gefallen bitten. Obwohl, eigentlich handelt es sich eher um ein Angebot, das für beide Seiten von Vorteil sein wird.“
Beim Prior schrillten sämtliche Alarmglocken. Der Don bat nie um etwas, und wenn er zusätzlich noch derart deutlich damit herausrückte, für seine jahrelangen Spenden nun endlich eine Gegenleistung erhalten zu wollen, konnte das nichts Gutes bedeuten. Doch er hatte keine Wahl.
  „Es erfüllt uns natürlich mit Freude, Don, dass wir Euch auch einmal etwas Gutes tun können.“
Während er diese Worte sprach, bildeten sich auf der fast spiegelglatten Glatze trotz jahrelanger Übung winzige Schweißperlen.
  „Was genau ist es denn, das wir für Euch tun können?“
Der Don begann zu sprechen, und als er nach vielen Minuten seine Ausführungen beendet hatte, war der Holztisch auf der Seite des Priors dunkel von herabgetropftem Schweiß.
  „Aber Don! Versteht doch… Das geht einfach nicht, ich kann nicht! Wir sind alle Brüder, Männer der Forschung. Ich kann niemandem vorschreiben, womit er seine Zeit verbringen soll“, startete der Prior einen letzten Versuch, sich aus dem Vorschlag des Don irgendwie herauszuwinden. Natürlich entsprachen seine Worte nicht ganz der Wahrheit. Er war zwar als Prior theoretisch nur der „Erste unter Gleichen“, praktisch war er aber weit mehr der Erste als gleich. In der Realität war der Prior für alle Angehörigen des Klosters eine übergeordnete Autorität, trotzdem machte er von seiner Macht nur äußerst selten und zurückhaltend Gebrauch.
Der Don verlangte, jedes einzelne Mitglied des Klosters an nur einem einzigen, gemeinsamen Projekt arbeiten zu lassen!
Das war eigentlich undenkbar, man war ja schließlich Wissenschaftler. Diese Aussage mag auf den ersten Blick verwirrend erscheinen, da in unserer Welt Mönche eher wenig mit Wissenschaft zu tun haben. Wirft man aber einen genaueren Blick auf das System der Klöster in Vacorta, macht es durchaus Sinn.
Der wichtigste Aspekt für alle Mönche, mit dem sich vor allem Eroberer oder Touristen [Wobei die Trennlinie nur sehr dünn und oft verschwommen ist.] nur schwer anfreunden konnten, war, dass kein Kloster in Vacorta einem Gott geweiht war.
Es war auch nicht mehreren Göttern geweiht, denn mit Göttern hatte man praktisch nichts am Hut, höchstens zu Forschungszwecken oder privat, aber auch das war sehr selten.
In den Klöstern, die an mehreren unzugänglichen Orten in Vacorta aufzufinden waren, [Der größte Teil der Bevölkerung ging davon aus, dass dies diverse mysteriöse Gründe hatte. Unsichtbare Strömungen in der Natur, der spezielle Geist in von Menschen verlassenen Gegenden, das Gefühl der Unendlichkeit, das die Barrieren des menschlichen Denkens öffnet usw. Man wusste es nicht wirklich und dachte sich irgend einen Mist aus, den man für „esoteerisch“ hielt, wobei auch hier niemand so genau erklären konnte, was das Leben als Mönch mit einem heißen Getränk zu tun hatte. Die wahren Gründe für die Abgelegenheit waren viel einfacher: Zuallererst wollten die Mönche einfach ihre Ruhe haben. Das ging nun mal umso besser, je weiter man von der nächsten Ortschaft entfernt war.
Auch gab es in der Vergangenheit oft Probleme mit der Nachbarschaft, zum Beispiel wenn mal wieder etwas explodiert war oder sich ein schleimiges Wesen, dessen Kopf in einem Glaskolben feststeckte, in der zum Trocknen aufgehängten Wäsche der Nachbarin verfangen hatte.]
widmete man sich praktisch nur der Erforschung der Welt, vor allem der Magie.
Um Mönch zu werden, musste man gelernt haben, die Magie zu beherrschen, dazu war ein zumindest in jungen Jahren ausgeprägtes Interesse am Universum [Bzw. am Multiversum, wie Sie ja wissen] und seiner Funktionsweise eine weitere Voraussetzung. Auch ein mangelhaftes oder aus diversen Gründen unterdrücktes Interesse am anderen Geschlecht war nicht gerade von Nachteil, wenn man sein Leben am Ende der Welt nur unter Männern verbringen wollte.
Aber es gab ja die gute alte Verdrängung.
Nahm man die Abgeschiedenheit, die Einsamkeit und alle anderen Nachteile in Kauf und hatte die Aufnahmeprüfung zum Mönch erst einmal bestanden, war das Leben eigentlich gar nicht so schlecht.
Die meisten Klöster wurden zwar finanziell gefördert, jedoch praktisch nie kontrolliert. So konnte jeder Mönch seinen Forschungen und Experimenten nachgehen, wie und auf welchem Gebiet er wollte. Zwang kannte man in den Klöstern kaum, Zusammenarbeit erfolgte höchstens freiwillig und deshalb eher selten. Für einen Haufen undisziplinierter, egoistischer Individualisten, wie es die Mönche waren, kam eine erzwungene Zusammenarbeit an einer einzigen Aufgabe einfach nicht in Frage.
Nicht einmal im Traum würde ein Mönch an ein solches Ereignis denken und genau deshalb wusste der Prior, welche Schwierigkeiten ihm diese Angelegenheit trotz seiner fast uneingeschränkten Macht im Kloster bereiten würde.
Doch der Don zeigte sich unerbittlich:
  „Ach, lassen wir doch diese leidige Angelegenheit und reden erst einmal über etwas anderes. Wie steht es eigentlich um die Finanzen des Klosters?“
Der Prior hatte nicht damit gerechnet, dass Raoul so offensichtlich damit drohen würde, seine Spenden an das Kloster einzustellen. Seine „Bitte“ musste wohl von äußerster Wichtigkeit für ihn sein. So sehr den Prior der Verlust einer seiner größten Einnahmequellen schmerzte, was der Don verlangte, war ein Ding der Unmöglichkeit.
  „Wir schreiben trotz der schlechten Zeiten schwarze Zahlen. Die Spender sind momentan so großzügig, dass wir fast auf einen verzichten könnten.“ Der Prior gab ein Lachen von sich, dass den letzten Satz als Scherz kennzeichnen sollte, obwohl beide wussten, dass es keiner war.
Raoul verzog trotz seiner Überraschung keine Miene.
  „Das freut mich zu hören, Prior. Das liegt vermutlich an Eurem außergewöhnlichen Finanzkonzept, das Ihr verfolgt?“
Wenn dieser sture Mönch sich derart sträubte, musste Raoul eben richtig Druck machen.
  „Von welchem Finanzkonzept redet Ihr? Unser Finanzierungsplan hat sich prinzipiell seit Jahren nicht geändert, ich verstehe nicht ganz.“
Bei diesen Worten fühlte sich der Prior wie eine Maus, die in das aufgerissene Maul einer Schlange spaziert, da sie es aufgrund der Größe der Schlange für eine Höhle hält.
Die Nackenhaare sträuben sich auch bei Mäusen oft erst dann, wenn es bereits zu spät ist.
  „Genau das ist ja das Problem. Es gibt da nämlich etwas, das ich nicht ganz verstehe, wenn ihr so nett wärt, es mir zu erklären?“
Der Don wartete erst gar nicht auf eine Antwort, sondern sprach mit ruhiger, freundlicher Stimme, die seine Worte Lügen strafte, weiter.
  „Meines geringen Wissensstandes nach finanzieren sich sie Klöster über Spenden. Diese sind teilweise privat, doch zu einem großen Teil auch staatlich.
Soweit ich weiß, gehen mit diesen Spenden auch gewisse Verpflichtungen einher.
Natürlich seid ihr auf sie angewiesen, schließlich habt Ihr keine Einnahmen und müsst trotzdem immer neue Novizen ausbilden und verpflegen.
Durch die Spenden wird es jedem, der Talent und Interesse hat, ermöglicht, ein Kloster zu besuchen. Dies ist eine der Bedingungen, dachte ich zumindest. Vermutlich bin ich nicht mehr auf dem neuesten Stand, was diese Klausel angeht.
Wie sonst soll ich mir erklären, dass die Novizen in Eurem Kloster gewaltige Mengen Geld ausgeben, um hier aufgenommen zu werden? Dass es dabei um eine bewusste Bevorzugung handelt, schließe ich aus, das wäre äußerst unehrenwert und dem Ruf Eurer Institution nicht angemessen. Aber seid doch so gütig und informiert mich darüber, wann die Regel für die Chancengleichheit unter den Bewerbern aufgehoben wurde oder wozu das Geld der Eltern der Novizen sonst dient. Ich möchte zwar nicht selber ein Kloster leiten, doch auch ich kenne mich ein wenig in finanziellen Angelegenheiten aus und wüsste zu gerne, wo mein Denkfehler liegt.“
Nach diesem Vortrag stand dem Prior der Mund offen. Sollte diese Angelegenheit an die Öffentlichkeit geraten, wäre er praktisch ruiniert. Die Klosterleitung wäre auf immer verloren, vielleicht würde das Kloster sogar geschlossen. Und die mächtigen, reichen Eltern der Novizen, die ihren Kindern einen Platz im Kloster erkauft hatten, würden dafür sorgen, dass er für den Rest seines Lebens ein mittelloser, wenn nicht sogar ein toter Mann bliebe.
So sehr es ihm auch widerstrebte, er musste sich fügen.
  „Um was genau ging es nochmal in Eurer Bitte, Don?“
  „Nun, ich habe in einem meiner Archive durchaus interessante Baupläne gefunden. Sie sind allerdings nur sehr grob und stellenweise auch etwas merkwürdig. Ich möchte, dass Eure Mönche diese Probleme beheben und den Bau leiten. Ich habe einige meiner fähigsten Ingenieure mitgebracht, die Euch den größten Teil der Arbeit abnehmen sollten. Jedoch gibt es gewisse Probleme mit Magie, bei denen meine Ingenieure Hilfe benötigen…“
Don Raoul redete und erklärte genau, was er brauchte. Der Prior hörte nur zu und begann in Gedanken bereits damit, unlösbare Probleme zu lösen.
Was blieb ihm auch anderes übrig?


***



Am nächsten Morgen klopfte es laut und selbstbewusst an die Tür von Pablos Zimmer. Er schreckte aus tiefstem Schlaf hoch, denn freiwillig stand er niemals vor der Mittagsstunde auf. Nach einigen Sekunden fiel ihm ein, wo er sich befand. Er setzte ein erwartungsvolles Grinsen auf, fuhr sich mit der Hand einmal durchs Gesicht, [Er nannte dies seine „morgendliche Wäsche“.] trat mit voller Absicht auf Poncho, der auf dem Fußboden geschlafen hatte und sagte betont fröhlich:
  „Los du alter Bettvorleger, wach auf. Hier gibt es ein paar Landeier übers Ohr zu hauen.“
Widerwillig kroch Poncho an Pablos Bein hinauf und legte sich über dessen Schultern.
Doch als Pablo die Tür mit einem selbstbewussten Lächeln öffnete, das den Anschein erwecken sollte, als sei er schon seit Stunden wach und gerade mit seinem morgendlichen Fitnesstraining fertig geworden, wartete dort kein einfacher Livenbauer, sondern Bonor selbst.
Seine Haut war wieder blass und stand damit im krassen Gegensatz zu dem schönen Wetter, das in dieser Region fast das ganze Jahr über herrschte. Fast wirkte er sogar ein bisschen krank.
Doch die Augen blickten direkt in Pablos Gesicht und signalisierten, dass ihr Inhaber genauestens über Pablo und seine Gedanken Bescheid wisse.
Als er jedoch zu sprechen begann, klang seine Stimme wieder ruhig, höflich und fast demütig:
  „Guten Morgen, Herr Pablo Paolo. Der Stadtrat hat getagt und sich entschlossen, die Anwesenheit Eurer außergewöhnlichen Persönlichkeit zu nutzen. Wenn Ihr also Zeit habt, einen kleinen Auftrag anzunehmen… “
  „Aber natürlich, Meister Bonor. Worum geht es denn? Eine Rattenplage oder doch ein Ungetüm? Nicht, dass eine dieser Möglichkeiten ein Problem für mich darstellen würde!“
Irgendwo unter Pablos Ohr grummelte es leise: „Angeberischer Lügner“, doch er ließ sich nicht beirren.
  „Am besten, ich zeige Euch das Problem vor Ort“, schlug der Bürgermeister vor.
  „Wenn Ihr mir bitte folgen würdet… “
Die Bitte klang mehr wie ein Befehl.
Pablo witterte immer noch die Chance, einem kleinen Bauerndorf seine hart erarbeiteten Ersparnisse für eine groß aufgeblasene Kleinigkeit abnehmen zu können. Er folgte dem Bürgermeister, wobei er versuchte, möglichst elegant und lässig zu laufen.
Als sie das Gebäude verließen, traf die Hitze Pablo wie ein Schlag. Obwohl es, zumindest für seine Begriffe, früher Morgen war, brannte die Sonne erbarmungslos vom Himmel, auf den staubigen Plätzen zwischen den Häusern war kein Mensch zu sehen. Im Schatten schliefen einige Hunde.
Bonor lief ohne ein weiteres Wort los. Es wirkte, als würde er schlendern, doch Pablo hatte große Mühe, das Tempo zu halten, ohne seinen eleganten Schritt aufgeben zu müssen.
Sie überquerten den Dorfplatz und nahmen Kurs auf eine Livenplantage.
Als Bonor schließlich anfing, sich zwischen den dicht beieinander stehenden Bäumen hindurchzuzwängen, musste Pablo sich sehr zusammenreißen, um seine Angst nicht zu zeigen.
Es bereitete ihm große Mühe, keinen falschen Ast zu berühren und somit einen wahren Hagel an gefährlichen Geschossen auszulösen. Dazu musste er sich weiterhin bemühen, elegant zu laufen, auch wenn Bonor sich noch nicht ein Mal nach hinten umgedreht hatte.

„Meine Güte, du wirst uns noch umbringen, wenn du so weiter machst. Du läufst wie eine Frau, die sich nachts im Hafen ein paar Münzen dazuverdienen will. Hör endlich auf mit den Hüften zu wackeln und sieh zu, dass wir hier ohne größere Löcher hindurch kommen!“, kritisierte der inzwischen vollständig erwachte Poncho leise.
  „Es handelt sich hierbei um etwas, dass dir komplett fehlt, nämlich Eleganz. Von daher will ich es dir nicht übel nehmen, dass du sie nicht auf den ersten Blick erkannt hast. Man muss immer den Schein wahren, ich verliere hier sofort jeden Respekt, wenn ich auch herum stapfe wie ein Bauer.“
  „Du hast hier nicht das geringste bisschen Respekt!
Diese dämlichen Bauern bewundern dich vielleicht wegen deiner Geschichten, von der keine einzige wahr ist.
Aber dieser Kerl hier vor uns, dieser Bonor…
Der durchschaut dich, und das weißt du.  
Ich sage dir, der führt irgendetwas im Schilde.
Hier ist kein Mensch, alles ist voller gefährlicher Livenbäume und er scheint sich gar nicht mehr um uns zu scheren.
Lass uns abhauen, der Kerl ist mir unheimlich.“
Auch Pablo war inzwischen sehr unsicher geworden, ob es wirklich die richtige Entscheidung gewesen war, dem wortkargen Mann zu folgen. Doch da Poncho es zuerst erwähnt hatte, musste er aus Prinzip widersprechen, auch wenn ihm selbst die Knie zitterten.
  „Jetzt stell dich nicht so an, du fleckige Markise. Was will dieser blasse Schreibtischtäter schon gegen uns ausrichten. Monster findet man nun mal nicht auf dem Dorfplatz, sondern in der Wildnis. Und jetzt halt endlich die Klappe, ich muss mich auf den Weg konzentrieren.“
  „Hoffen wir mal, dass es sich nicht wirklich um ein Monster handelt“, brummte Poncho noch einmal, dann verstummte auch er. Tatsächlich war Bonor ihnen schon ein gutes Stück voraus und Pablo musste vorerst seine ganze Konzentration einsetzen, um wieder zu seinem Führer aufzuschließen.
Den vermeintlich eleganten Gang hatte er aufgegeben.
Die Wanderung dauerte noch fast eine Stunde.
Eine Stunde, voll von Hitze, unebenem Boden, der nur darauf zu warten schien, einem Wanderer den Knöchel zu brechen und natürlich Livenbäumen, immer schussbereit.
Doch irgendwann stolperte Pablo einen letzten Schritt vorwärts und der Livenhain lag plötzlich hinter ihm.
Schweißgebadet hob er den Kopf und sah eine von kleinen Sträuchern und Gräsern bewachsene Fläche, an deren Ende sich eine zerklüftete Felswand erhob.
  „Sind wir da?“, richtete er die Worte an Bonor und schaffte es gerade noch, sich ein „endlich“ zu verkneifen.
Einige Meter vor sich sah er ungefähr ein Dutzend Bauern, so nahm er seine letzten Energien zusammen, um wieder selbstbewusst und gebieterisch zu wirken.
Bonor drehte sich zum ersten Mal um, er schien fast zu lächeln, als er sagte: „Ja, sind wir. Da vorne ist es, wenn Ihr mir bitte folgen würdet.“
Pablo antwortete nicht, er setzte sich mit großen Schritten in Bewegung, als hätte die schwierige Wanderung nicht einmal ausgereicht, um seine Muskeln warm werden zu lassen.
Als er sich der Felswand näherte, sah er, dass sich eine Öffnung darin befand.
Es war nicht der Eingang zu einer normalen Höhle, das sah er sofort.
Ein großer, gezackter Riss führte vom Boden aus bis in fünf Meter Höhe und bildete so einen Spalt, den drei Männer nebeneinander bequem betreten konnten. An den Rändern des Spalts schienen Felsstücke herausgebrochen zu sein. Pablo sah sich auf dem Platz um, entdeckte einige weit verstreute Felsbrocken und kam zu dem Schluss, dass sie wohl eher hinaus gesprengt worden waren, wenn er die Entfernung zur Felsspalte betrachtete. Das mulmige Gefühl schien inzwischen mit einer Spitzhacke seine Magenwand zu bearbeiten, um irgendwie seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Dann standen Bonor und er auch schon direkt davor. Pablo versuchte, möglichst desinteressiert zu wirken, während er sich Mühe gab, die undurchdringliche Finsternis in der Felsspalte mit Blicken zu zerteilen. Er hatte keine Chance.
  „Um was für eine Art Ungeziefer handelt es sich hierbei eigentlich?“, fragte er beiläufig, als sei es zwar interessant, aber keinesfalls relevant.
  „Wenn wir das so genau wüssten, Mann.“
Einer der Bauern war neben Pablo getreten und hatte geantwortet, bevor Bonor den Mund öffnen konnte. Der schien kurzzeitig irritiert, ließ den grobschlächtigen Livenbauern aber gewähren.
  „Das Biest selbst haben wir noch nie wirklich gesehen. Nur ein paar Betrunkene haben die wildesten Sachen zusammenfantasiert, aber das kann nicht stimmen. Die einzigen Tatsachen, die wir haben, sind die Spuren der Verwüstung, die es hinterlässt.“ Der Mann verzog das Gesicht.
  „Drei Leichen, auf unterschiedliche Weise verstümmelt und zerfetzt, dazu noch ein ganzer Haufen Livenbäume, die ausgerissen und zerschlagen wurden. Vielleicht waren es Integrale, aber wir wissen es nicht genau.“
Pablo fand es immer wieder erstaunlich, wie schnell sich Pseudowissen verbreitete.
  „Ich sehe mir die Sache einmal aus der Nähe an“, versprach er.
In Gedanken schmiedete er bereits Pläne, wie er sich möglichst unbeschadet aus der Sache herauswinden könne.
Doch die Hoffnung auf Gewinn hatte er noch nicht ganz
aufgegeben.
Und so bewegte er sich mit selbstsicheren, aber sehr langsamen Schritten auf den finsteren Spalt in der Felswand zu.
Drinnen umschloss ihn fast völlige Dunkelheit.
Seine Augen waren noch an das grelle Tageslicht gewöhnt, er war praktisch blind.
Trotzdem lief er weiter.
Mit jedem Schritt schien es deutlich kälter zu werden, dazu kam noch ein Gefühl, als würden unsichtbare, viel zu große Augen jeden von Pablos Schritten beobachten.
  „Verdammt, Großer. Diese Höhle ist unheimlich. Drei zerfetzte Leichen und ein Vieh, das unbeschadet Livenbäume ausreißt?“
Poncho hatte sich zu Wort gemeldet.
  „Wenn ich selbst Beine hätte, wäre ich schon zwanzig Meilen weit weg von hier. Hier ist nichts zu holen, Pablo, also lass uns abhauen. Ich will meine Fransen nicht für ein bisschen Silber von Hinterwäldlern riskieren.“
Pablos Nerven waren aufgrund der bedrohlichen Höhle schon bis zum Zerreißen gespannt, trotzdem fand er noch irgendwo eine weitere Alarmsirene, die in seinem Kopf anspringen konnte.
Poncho hatte ihn beim Namen genannt. Das tat er nur selten. Sehr, sehr selten. Das hieß, es war ihm wirklich ernst. Poncho musste die drohende Gefahr ebenfalls spüren und wollte offensichtlich nichts anderes, als auf direktem Wege zu verschwinden.
Diese Aufforderung seines langjährigen Gefährten gab den Ausschlag. Hastig machte Pablo auf dem Absatz kehrt und rannte auf den schmalen Streifen Licht zu, der den Ausgang markierte.
Einige Meter davor bremste er ab, strich Haare und Kleidung glatt und überlegte, welcher lockere Spruch wohl angebracht wäre, um für eine Gelegenheit zur Flucht zu sorgen.
Doch er kam gar nicht mehr dazu, seinen Spruch anzuwenden.
Kurz bevor Pablo zurück ins grelle Tageslicht treten konnte, rannte er gegen eine Wand.
Es war nicht im eigentlichen Sinne eine Wand, aber drei äußerst kräftige Livenbauern mit verschränkten Armen vor der Brust verursachen einen ähnlichen Effekt.
Pablo versuchte immer noch, seine Benommenheit los zu werden, als Bonor mit selbstsicherem Schritt zwischen den Bauern hervortrat und anfing zu sprechen, bevor Pablo sich irgendeine Ausrede einfallen lassen konnte.
  „Ich mache es kurz, Meister Pablo. Ja, es stimmt. Die Einwohner dieses Dorfes sind größtenteils nicht gerade die hellsten und schnell zu beeindrucken, aber sie besitzen einen Vorteil: Sie kennen ihre Schwächen. [Und das ist wirklich eine erstaunliche Leistung! Es gibt verschiedene Abstufungen von Intelligenz, die fließend in Dummheit übergehen. Trotzdem kann ein intelligenter Mensch auch dumm sein. Sie merken schon, das ist ein kompliziertes Thema, aber wir wollen versuchen, es einfach zu halten. Das Problem bei den meisten dummen Leuten ist, dass sie sich für schlau halten. Dummheit an sich ist im Prinzip unproblematisch, aber nur wenn man sie erkennt und sich dementsprechend verhält. Ein nahezu legendäres (und vollkommen unbekanntes) Experiment führte zu diesem Thema ein Mönch namens Vrederikh Erdreter durch. Da seine ganze Familie unter einer starken Rechtschreibschwäche litt, wurde er oft für dumm gehalten.
Er kam als erster auf die Idee, dass Dummheit unproblematisch ist, sofern man sie rechtzeitig erkennt. Dazu reiste er mit einer Wagenladung Weidenkörbe im Sommer nach Vacorta und behauptete, es seien Schränke, die Lebensmittel vor dem Verderben schützten. Die Schränke seien magischer Natur und erhitzten die Lebensmittel auf über 40° C, eine zur Konservierung angeblich optimale Temperatur. Obwohl das Thermometer im Sommer sowieso selten geringere Werte anzeigte, gingen die nicht im geringsten magischen Körbe innerhalb weniger Tage  zu einem völlig überhöhten Preis weg. Zwar tauschte Erdreter das verdiente Geld (Natürlich über ein paar gewisse Zwischenstationen, die hier nicht näher beschrieben werden sollen) gegen eine gewaltige Sammlung von Geschlechtskrankheiten ein, kehrte aber wenigstens an Wissen reicher in sein Kloster zurück.
Seine Verkaufsstrategie war einfach. Er präsentierte die Weidenkörbe voller Inbrunst, erklärte dann aber scheinbar verzweifelt, er wisse nicht mehr, wie sie funktionierten. Natürlich erkannten einige Leute den Betrug. Andere wiederum gaben zu, dass sie es auch nicht wüssten und an einem Kauf deshalb nicht interessiert seien.
Doch die meisten Leute waren dumm. In ihrer vermeintlichen Schlauheit fühlten sie sich V. Erdreter haushoch überlegen und dachten sich selbst die verrücktesten Theorien aus, warum der Korb funktionieren könnte. Schließlich hatten sie sich selbst überzeugt und kauften einen einfachen Weidenkorb für das hundertfache des normalen Preises, um Lebensmittel darin schneller verderben zu lassen.]
Deshalb übertrugen sie mir die Leitung über das Dorf, in der Gewissheit, dass sie zwar nicht jede meiner Entscheidungen nachvollziehen können, aber ich letztendlich trotzdem die richtige Entscheidung treffen würde. Und ich, Meister Pablo, habe Euch von Anfang an durchschaut. Ihr seid ein armseliger Faulpelz, denkt, Ihr könntet ein paar Landeier um ihr hart erarbeitetes Geld erleichtern, indem Ihr ein paar Heuschrecken erschlagt. Wir sind keine grausamen Menschen, deshalb geben wir Euch eine Chance. Eure Aufgabe ist es nach wie vor, das Monster zu suchen und zu beseitigen. Sollte Euch dies gelingen, erhaltet Ihr natürlich Euren Lohn und könnt unser Dorf ohne Schaden verlassen. Wenn Ihr allerdings denkt, euch irgendwie aus dieser Angelegenheit herauswinden zu können, liegt Ihr falsch. Wenn Euch diese Bauern noch ein weiteres Mal erblicken, werden Sie Euch wirklich töten. Die wahrscheinlichste Möglichkeit von allen ist natürlich, dass ihr in den Höhlen vom Monster getötet werdet. Aber eine geringe Chance ist besser als keine, also dreht Euch um und geht Eurer Arbeit nach. Es ist nicht notwendig, dass Ihr noch etwas sagt.“
Pablo wäre auch gar nichts mehr eingefallen.
Also drehte er sich um und wankte mit unsicheren Schritten in die Dunkelheit zurück. In sicherer Entfernung zu den muskulösen Bauern setzte er sich erst einmal auf den kalten Steinboden und begann, seine Gedanken zu sortieren.
  „Kannst du nicht endlich mal ruhig sein?“, fuhr er Poncho nach einigen Minuten an.
Dieser hatte, sobald sie außer Hörweite der Bauern waren, damit begonnen, ohne Unterlass „Scheißescheißescheißescheiße… “ vor sich hin zu murmeln.
Pablos Rüffel schien ihn aus einer Trance zu erwecken.
  „Was? Achso, ja, entschuldige. Aber wenn es dir verdammt noch mal möglich wäre, nachzudenken, wären wir erst gar nicht in diese Situation gekommen! Wer hat gesagt, dass wir abhauen sollten? Ich! Aber nein, die organische Intelligenz hält sich mal wieder für besser als die, ähhh, stoffliche. Du bist dumm wie ein Tier, aber dir fehlen die Instinkte. Ihr Menschen seid doch alle gleich.“
  „Ok, du hast ja Recht.“, gab Pablo widerwillig zu.
  „Jetzt sitzen wir hier aber gemeinsam in der Scheiße, also hilf mir dabei, einen Ausweg für uns zu finden!“
  „Pff, für uns! Für MICH habe ich schon einen Ausweg gefunden. Ich tue das, was ich schon längst hätte tun sollen. Ich mache mich vom Acker, löse mich von deinem schlechten Einfluss.
Ich warte ein paar Stunden, dann krieche ich aus der Höhle heraus. Einen Poncho werden sie nicht einmal bemerken.“
  „Oh doch, das werden sie. Diese Bauern leben in einer Gegend, in denen ihnen sogar die Bäume an den Kragen wollen. Der Inhalt dieser Höhle ist um einiges schlimmer. Du weißt vielleicht, dass ein normaler Poncho, nicht zu Unrecht, gar nicht kriechen kann! Die werden dich für das Monster oder etwas Ähnliches halten und dich ohne Zögern ins Lagerfeuer werfen.
Dann ist alles, was von dir übrig bleibt, stinkender Qualm. Also verhalte dich nicht so dämlich, und hilf mir.“
  „Es passiert zwar sehr selten, aber diesmal hast du wirklich Recht“, gab Poncho schließlich klein bei.
  „Wir beide wissen, dass wir nur eine Möglichkeit haben. Vielleicht finden wir ja einen anderen Ausgang aus dieser Höhle, bevor das Monster uns findet. Also los, wir müssen ja nicht warten, bis das Vieh kontrolliert, was sich da in sein Reich begeben hat. Je früher wir aufbrechen, desto schneller sind wir draußen.“
  „Stimmt. Wäre doch gelacht, wenn diese Höhle nicht noch einen Ausgang hätte. Wahrscheinlich müssen wir nur ein paar hundert Meter weit laufen.“
Doch es gelang Pablo nicht recht, mit seinen Worten Zuversicht zu verbreiten.
Seine zittrige Stimme trug dazu ebenso viel bei wie das Gefühl der Kälte und der beobachtenden Augen, dass die beiden Gefangenen auf ihrer Haut [bzw. ihrem Stoff] spürten. Trotzdem rückte Pablo sein sprechendes Kleidungsstück in eine bequeme Position, löste den längsten der unzähligen Zähne, die an seinem Hut befestigt waren, packte ihn wie einen Dolch und schritt in die Dunkelheit hinein.     


***



 „Du verdammtes Mistvieh!“, fluchte Fräulein Pfeffer und ließ ihren Krückstock aus solidem Gusseisen ein weiteres Mal auf den Schädel der Kreatur krachen.
  „Der“ Schädel ist dabei nicht ganz zutreffend, denn die Kreatur hatte gleich vier davon. Sie ähnelte im Prinzip einem Wolf, war allerdings ein gutes Stück größer und besaß an Stelle eines Kopfes, wie es sich für ein wohlerzogenes Säugetier gehört, noch drei weitere. Diese waren zwar nicht mit Augen ausgestattet, dafür war das Maul mit den spitzen Zähnen umso größer.
Der Kopf, den Fräulein Pfeffer traf, war der mit Augen.
Von daher war es nicht weiter verwunderlich, dass die Kreatur ein gequältes Jaulen hervorbrachte und schließlich zusammenbrach.
Mit einem zufriedenem Lächeln wischte Fräulein Pfeffer ihren Krückstock am Fell des Ungeheuers ab, dann rief sie laut: „Ihr könnt wieder herauskommen!“
Wie ein Ameisenvolk aus einem Hügel, nachdem man aus Versehen in ihn hineingetreten war, kamen nun von überall die anderen Bewohner des Dorfes heran. Aus Kellerräumen, Schränken, unter Betten, sogar aus Misthaufen und dem Gemüsegarten von Witwe Holznagel krochen sie hervor.
Während die Leute leise Ausreden vor sich hin murmelten, warum sie nicht bei der Verteidigung des Dorfes helfen konnten, schüttelte Fräulein Pfeffer nur den Kopf. Manchmal traf sie die Dummheit der Dorfbewohner wie ein Schlag.
Da gab es zum Beispiel Ralph, den Neffen der Bürgermeisters. Er hatte sich auf den Boden gekniet und seinen Kopf vor lauter Angst in das feuchte Erdreich gesteckt, dabei konnte kein Ungeheuer so dumm sein, Ralphs gewaltiges Hinterteil mit einer Karotte zu verwechseln.
Auch die Ausreden der Leute stellte die Geduld der resoluten Dame auf eine harte Probe. Zwanzig gebrochene Arme und eine ebenfalls erstaunlich hohe Anzahl von überraschend aufgetretener Blindheit hielt sie einfach nur für lächerlich.
Schließlich hatte sich das gesamte Dorf [Eigentlich eine unsinnige Aussage. Das Dorf konnte sich schließlich nicht bewegen. Wenn also ein Monster seinen Mittelpunkt erwählte, um von Fräulein Pfeffer verstorben zu werden, was blieb dem Dorf schon anderes übrig, als sich um den Kadaver herum zu gruppieren?]  um die Leiche der Bestie versammelt.
Das Dorf war eine kleine Ansammlung von Holzhäusern am nördlichen Rand des Reiches Vacorta. Nicht einmal hundertfünfzig Menschen, von denen ein Großteil auf eine Art und Weise miteinander verwandt war, die rein biologisch eigentlich unmöglich sein sollte, verbrachten dort ihr Leben.
Keiner der Bewohner hatte großartigen Reichtum angehäuft, sie alle verdienten ihren Unterhalt mit der Tierhaltung und dem Anbau von Kartoffeln, Weizen und natürlich Knoblauch.
Der Knoblauch war das einzige, das dieses kleine Dorf ohne Namen zu etwas Besonderem machte.
Nicht nur, dass ein von Fremden als „penetrant“ beschriebener Knoblauchduft die Nase verwöhnte, sobald man sich auf einige Kilometer dem Dorf näherte, nein, das Dorf besaß ein wohl gehütetes Geheimnis. Alle Nachbardörfer beneideten es um dieses Geheimnis, denn es versprach Ruhm, Erfolg und zumindest ein kleines, aber zuverlässiges Einkommen.
Das Dorf war im Besitz des Rezeptes für die beste Knoblauchmayonaise der bekannten Welt. In Kombination mit dem einzigartigen Knoblauch der Region war es, nach einer kurzen Eingewöhnungsphase, für so manch einen Adligen zu einem festen Bestandteil des Abendessens [Und nach noch längerer Eingewöhnungsphase erst des Mittagessens und schließlich sogar des Frühstücks] geworden. Doch seit einiger Zeit litt das Dorf unter einer Plage. Merkwürdige Ungeheuer kamen aus dem Wald und stürzten sich auf Mensch und Knoblauch, bis sie [Meistens von Fräulein Pfeffer]  umgebracht werden konnten.
  „Es ist schon das zweite Ungeheuer in dieser Woche!“, rief eine Dorfbewohnerin empört. Zustimmendes Gemurmel ertönte.
Während sich die Leute immer mehr ereiferten, wartete Fräulein Pfeffer noch einige Sekunden auf ein Wort des Dankes, ging dann aber kopfschüttelnd in ihre Hütte zurück. Es war nicht so, dass sie die Dorfbewohner nicht leiden konnte. Im Gegenteil, sie kannte fast jeden schon seit seiner Kindheit, mochte jeden trotz seiner Schwächen und wollte nirgendwo anders leben als im Dorf. Doch Fräulein Pfeffer legte viel Wert auf Anstand und Sittlichkeit [Warum sonst sollte eine 75-jährige Frau mit solcher Vehemenz auf der Bezeichnung „Fräulein“ bestehen? ]  und ein Wort des Dankes wäre nun wirklich nicht zu viel verlangt gewesen, nachdem sie wieder einmal im Alleingang alle gerettet hatte.
Sie betrachtete sich im großen Spiegel in der Küche, der so sauber poliert war, dass er das Licht nicht nur reflektierte, sondern dabei noch verstärkte. Wer mit einer Lampe in der Hand vor diesen Spiegel trat, lief Gefahr, sofort zu erblinden.
Sie sah eine Frau, die gut fünfzehn Jahre jünger wirkte, als sie war. Das graue Haar war zu einem ordentlichen Dutt gebunden und zwei blaue Augen, mit denen man vermutlich Glas schneiden konnte, strapazierten die Belastbarkeit des Spiegels.
Der strenge Eindruck wurde jedoch von dem gütigen Gesicht voller Lachfalten [Sie bestand darauf, dass es ausschließlich Lachfalten seien, und niemand hatte sich bisher getraut, das Gegenteil zu behaupten.] abgemildert.
Bekleidet war sie, wie immer, mit einem schlichten Kleid aus grober Wolle, unter dem sie heimlich feste Lederhosen trug. Aber das brauchte ja niemand zu wissen.
Zufrieden sah sie, dass der Kampf mit dem Ungeheuer keinerlei Spuren auf ihrer Kleidung hinterlassen hatte. Nach einem Kampf mit Blut, Dreck und Speichel besudelt zu sein, war nach Fräulein Pfeffers Ansicht etwas für männliche Helden, die sowieso immer schmutzig waren und stanken. Doch für eine Dame ihres Alters geziemte es sich einfach nicht, also ließ sie sich gar nicht erst darauf ein. Sie seufzte, als ihr Blick auf das Bett in der kleinen Schlafkammer neben der Küche fiel.
Es war ja nicht so, dass sie sich selbst als unzufrieden angesehen hätte. Doch in letzter Zeit… war sie irgendwie genervt. Natürlich lag es an Margarethe, aber mit ihr kam sie schließlich schon seit längerer Zeit halbwegs gut klar. Der eigentliche Grund waren wohl die Monster, die seit einiger Zeit immer und immer wieder das Dorf angriffen. Fräulein Pfeffer sehnte sich nach ein wenig Ruhe, einem bisschen weniger Verantwortung, die auf ihren Schultern lastete.
  „Hallööööchen!“, erklang es von der Tür her.
  „Hallo Margarethe.“
Niemand sonst konnte ein solches „Hallööööchen“ von sich geben, abgesehen von Margarethe.
  „Würdest du dich bitte noch einmal um dein Bett kümmern? Die Matratze gehört nicht in den Bettbezug hinein und das Laken dient auch nicht dazu, die Decke zu einem festen Ball zu verschnüren. Du musst die Dinger vertauschen, Mädchen.“
  „Ach soooo… .“, stöhnte Margarethe theatralisch. „Halten Sie mich nicht für dumm, Frau… “
  „FRÄULEIN!“
  „… Fräulein Pfeffer. Ich hab beim Beziehen sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt.“ In Margarethes Stimme klang Stolz mit. Es war auch nicht so, dass Fräulein Pfeffer Margarethe für dumm gehalten hätte. Sie wusste mit Sicherheit, dass sie es war.
Vor ungefähr einem Jahr hatte die alte Frau Senfkorn aus dem Nachbardorf Fräulein Pfeffer gebeten, ihre Enkelin Margarethe als Hausmädchen einzustellen.
Fräulein Pfeffer hatte zu diesem Zeitpunkt nicht darüber nachgedacht, warum ein zwanzigjähriges, blondes Mädchen von umwerfender Schönheit nicht in der Lage war, eine Arbeit zu finden. Außerdem wurde sie wirklich langsam alt und ein wenig Hilfe im Haushalt schien ihr gar keine schlechte Idee zu sein, also hatte sie zugesagt. Doch schon am ersten Arbeitstag war sie sich ganz sicher gewesen, dass Margarethe mehr Arbeit verursachen würde, als dass sie eine Hilfe war.
Das Mädchen war eigentlich sogar relativ geschickt, doch was sie in den Händen Und an anderen Körperteilen, welche die Männer im Dorf immer wieder dazu veranlassten, auf unnatürliche und vermeintlich unauffällige Weise zu schielen, wenn Margarethe vorbeispazierte] hatte, fehlte ihr im Gehirn.
So hatte Fräulein Pfeffer an jenem schönen Sommertag, als die Kühe fröhlich muhten und das Gras grüner erschien als je zuvor, bemerkt, dass ihre Küche nach den Vorbereitungen für das Dorffest außerordentlich dreckig war.
Während sie sich um den Abwasch kümmerte, wies sie Margarethe an, die Herde zu schrubben. Diese eilte auch sofort in die Besenkammer, um die nötigen Utensilien zu besorgen. Beruhigt vertiefte sich Fräulein Pfeffer wieder in die Arbeit, die ein Berg verkrusteter Töpfe mit sich brachte. Als sie mit den Gedanken wieder zurückgekehrt war, hatte sie mit Abstand die saubersten Kühe der Stadt. Nur die Herde in der Küche waren genau so dreckig wie zuvor.
Leider brachte es auch nicht das Geringste, Margarethe eine Standpauke zu halten, wenn diese sich keiner Schuld bewusst war. Damals hatte sie fest darauf beharrt, dass sie den Auftrag bekommen hatte, „die Herde“ zu waschen.
Und da dies auch der Wahrheit entsprach, hatte sie keinen Grund gesehen, ausgeschimpft zu werden.
Fräulein Pfeffer hatte der Versuchung widerstanden, dem Mädchen an den Kopf zu werfen, dass kein halbwegs intelligenter Mensch auf die Idee käme, eine Herde Kühe zu waschen, vor allem nicht, wenn man gerade in der Küche beschäftigt sei, doch sie unterließ es aus Rücksicht auf Margarethes labile Gefühlswelt und versuchte sich darüber zu freuen, dass das Mädchen wenigstens zu grundlegender Logik fähig schien.
Diese Geschichte war allerdings schon lange her und inzwischen hatte Fräulein Pfeffer gelernt, wie man sich am besten ausdrückte, wenn man mit jemandem sprach, der wahrscheinlich von einem Schimpansen im Schach geschlagen werden konnte.
  „Oh nein!“, erschallte plötzlich ein lauter Schrei von draußen und riss Fräulein Pfeffer aus ihren Gedanken.
Es war Margarethes Stimme. Innerhalb weniger Sekunden befand sich Fräulein Pfeffer mit hoch erhobenem Krückstock vor der Tür und spähte hektisch nach allen Seiten.
Es war kein Ungeheuer zu sehen. Sie entspannte sich.
  „Was ist los, Margarethe?“, fragte sie resigniert.
  „Schauen Sie doch mal, Fräulein Pfeffer! Sie haben diese tollen Blümchen auf die falsche Seite der Bettdecke gestickt! Sie sind innen! All die ganze Arbeit… “
Ehrliche Trauer klang in Margarethes Stimme mit. [Falls Sie sich wundern, warum Margarethe sich plötzlich außerhalb des Hauses aufhält, obwohl sie gerade noch in ihrem Schlafgemach stand, gibt es dafür eine einfache Erklärung. Das Beziehen eines Bettes ist eine Tätigkeit, die relativ viel Platz benötigt. Nicht, dass Fräulein Pfeffers Behausung diesen Platz nicht geboten hätte, doch für Margarethe galten andere Maßstäbe als für normale Menschen. Jemand, der sich nicht vorstellen kann, dass außerhalb seines Blickfeldes noch weiterer Raum existiert (bzw. eben nicht), sollte auf keinen Fall in der Nähe zerbrechlicher Gegenstände ein Bett beziehen. Nachdem Margarethe mehrmals vergleichsweise teure Vasen von den Regalen und Töpfe sowie Bilder von der Wand geschleudert hatte, wurde es Fräulein Pfeffer zu viel. Von nun an verbot sie ihrer Haushaltshilfe, Betten innerhalb geschlossener Räume zu beziehen.] Trotzdem löste es irgendetwas aus in Fräulein Pfeffers Gehirn.
Eine weitere Flocke fiel auf den gewaltigen Schneehaufen, der in dieser Metapher ihre Genervtheit repräsentiert. Dieses Mal jedoch waren die Pflöcke des Anstands und die Netze der Verantwortung nicht mehr in der Lage, die Schneemassen aufzuhalten.
Ohne ein Wort zu sagen, stülpte sie Margarethes Bettbezug auf die richtige Seite, betrat das Haus, wo sie einige Lebensmittel, vor allem „Pfräulein Pfeffers ekstra starke Knoblauchmajonäse“ einpackte, verließ das Haus wieder und ging auf den nahen Wald zu. Dabei kam sie an den anderen Dorfbewohnern vorbei, die erfolglos versuchten, den Kadaver des erlegten Ungeheuers zu entsorgen, ohne ihn dabei mit mehr als den Fingerspitzen zu berühren. Als Fräulein Pfeffer entschlossen an ihnen vorbei stiefelte, sahen sie kurz auf, senkten aber schnell wieder die Köpfe und versuchten, einen beschäftigten Eindruck zu erwecken, bis endlich jemand das verdammte Monster weggeräumt hatte.
  „Das ist mal wieder typisch“, dachte Fräulein Pfeffer im Vorbeigehen.
  „Sie tragen ihr Hirn nur im Kopf herum, damit es kein Echo gibt, wenn sie sich etwas zu Essen in den Mund werfen.“
Außerdem machte es sie ein wenig traurig, dass niemand reagierte, obwohl sie so offensichtlich dabei war, das Dorf für immer zu verlassen. Schließlich zeigte Witwe Holznagel doch Erbarmen.
  „Heidelore! Was tust du denn da? Hilf mir lieber, diesen Hohlköpfen Beine zu machen, damit sie endlich den stinkenden Bettvorleger da aus dem Weg schaffen!“
Niemand außer Annemarie Holznagel nannte Fräulein Pfeffer beim Vornamen. Als er äußerst betrunken gewesen war, hatte es einmal ein weiterer missratener Neffe des Bürgermeisters probiert. Seitdem trug er auf der Stirn ein „Muttermal“, wie er es nannte, das verdächtige Ähnlichkeit mit dem Abdruck eines gewissen, gusseisernen Krückstocks aufwies. Doch Fräulein Pfeffer hatte nichts dagegen, von Witwe Holznagel beim Vornamen genannt zu werden. Im Gegenteil, sie hielt sie für die einzige weitere Person im Dorf, die mit Hirn und etwas, dass sie
  „Gut darin sein, anderen Leuten Feuer unter‘m Arsch zu machen“ [Hätte Fräulein Pfeffer das Wort „Führungsqualitäten“ gekannt, hätten wir ein wenig Tinte und Papier gespart. Sie sehen: Mangelnde Bildung richtet unsere Welt zu Grunde.] nannte, gesegnet war. Glücklicherweise beruhte diese Ansicht auf Gegenseitigkeit.
So steuerten die beiden Frauen das Dorf sicher durch den reißenden Strom der Zeit. Der beschränkte Bürgermeister hatte natürlich nicht die geringste Ahnung davon und hing  immer noch dem Irrglauben an, er führe das Dorf. [Ein unter Männern weit verbreiteter Irrtum.]
  „Ich gehe“, antwortete Fräulein Pfeffer schlicht.
  „Wohin? Du wirst hier gebraucht, das weißt du. Liegt es an Margarethe?“ Wie gesagt… Mit Hirn gesegnet.
  „Nein.“ Sie zögerte. „Hm, nicht nur. Es liegt an den Monstern, das kann so nicht weitergehen. Wir haben schon zwei Tote zu beklagen und dem alten Willibald haben sie inzwischen auch noch sein anderes Bein abgebissen. Wie lange soll das noch so weitergehen, bis von uns gar nichts mehr übrig ist? Wir sind nicht schnell genug, wir können die Viecher nicht immer rechtzeitig erschlagen.“
  „Aber was willst du tun? Du weißt nicht einmal, woher sie überhaupt kommen. Wohin willst du gehen?“
  „Nach Vacorta. [Damit folgte sie der alten Weisheit, die da lautete: „Alle Mistkerle führt es nach Vacorta.“ Nun ist der kleine Tonkrug der landläufigen Weisheiten geradezu ein Paradebeispiel für die Evolution, da solche Weisheiten ständig irgendwo entstehen. Dementsprechend herrscht in dem kleinen Tonkrug (Nein, es ist diesmal keine Metapher! Wo er steht, verrate ich allerdings nicht) ein irrsinniges Gedränge und die Weisheiten kriegen kaum das Klatschmaul schnell genug auf, um die nächste Konkurrentin zu fressen. Es gibt nur eine einzige Weisheit, die nur frisst, niemals aber gefressen wird und deshalb auch keinen Grund mehr darin sieht, sich irgendwie zu verändern.
Es handelt sich dabei um die oben genannte. Ich bin sicher, Darwin wäre äußerst verblüfft gewesen, hätte er sie kennen gelernt, doch er hätte schnell den Grund für diese Tatsache erkannt: Ihr Inhalt entsprach voll und ganz der Wahrheit.]
Irgendjemand ist dafür verantwortlich, da bin ich mir sicher. Es kommen nicht einfach von heute auf morgen wahre Heerscharen von Ungeheuern aus dem Wald.
Für solche Untaten kann nur ein Mensch verantwortlich sein.
Ich werde ihn finden.“
  „Und dann?“
  „Dann werde ich mich… offiziell beschweren.“ Dabei ließ Fräulein Pfeffer ihren Krückstock schwungvoll auf die Handfläche klatschen.
Witwe Holznagel wusste, dass ihre Freundin in dieser Stimmung nicht aufzuhalten war. Und sie wusste, dass sie für kein Gold der Welt in der Haut desjenigen stecken wolle, bei dem sich Fräulein Pfeffer beschweren wollte.
  „Es wird schwer ohne dich“, sagte sie.
  „Aber du wirst es schaffen. Du musst“, war die knappe Antwort.
In einem stillen Moment gegenseitigen Einverständnisses schauten sich die beiden alten Frauen noch einmal in die Augen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte sich Fräulein Pfeffer um und verschwand im Wald. Witwe Holznagel verscheuchte das bedauernde Lächeln von ihrem Gesicht und ersetzte es durch das mimische Pendant einer mit Gebrüll geschwungenen Streitaxt.
Sie drehte sich zu den anderen Dorfbewohnern um, die den Kadaver immer noch keinen Zentimeter bewegt hatten. Mit Unheil verkündendem Gang schritt sie auf die Menschentraube zu.


***



Natürlich gab es nicht nach wenigen hundert Metern einen zweiten Ausgang. Im Gegenteil, Pablo und Poncho liefen inzwischen seit ungefähr zwei Stunden, worauf sie sich nach einem langen Streitgespräch geeinigt hatten, durch eine undurchdringliche Finsternis. Da Pablo wie ein Schlafwandler mit ausgestreckten Armen den Weg ertasten musste, kamen sie nicht besonders schnell voran. Der Zahn, der als Waffe dienen sollte, war ihm bei einem der ersten Zusammenstöße mit der Höhlenwand aus der Hand gefallen und spurlos in der Dunkelheit verschwunden.
Es war zwar nicht so, dass sich die beiden an das Gefühl der bösartigen, beobachtenden Augen gewöhnt hatten, doch sie hatten nach einiger Zeit gelernt, die Angst einfach zu ignorieren.
Trotzdem war die Stimmung von verbissener Entschlossenheit geprägt, es kam kein Gespräch auf. Doch nur einige Minuten später schien sich die Situation grundlegend zu ändern.
  „Hey, Fleischbeutel! Ich sehe ein Licht!“, meldete sich Poncho überraschend zu Wort.
  „Du hast nicht einmal Augen, wie willst du da etwas sehen? Du fantasierst doch“, warf Pablo ein. Dabei wusste er genau, dass die Sinnesorgane des Kleidungsstückes deutlich schärfer waren als seine eigenen, wollte dies aber nicht zugeben. Außerdem wagte er es noch nicht, sich nach so kurzer Zeit schon wieder Hoffnung zu machen.
Poncho hingegen wusste, dass er Recht hatte und erwiderte deshalb nichts.
Nach einigen Minuten blinden Vorantastens meinte auch Pablo, grobe Umrisse in der Dunkelheit erkennen zu können. Er ging weiter und bog um eine überraschend aufgetauchte Ecke. Das Licht war so hell, dass er fast zurück ins Dunkel getreten wäre, doch die unsichtbaren Augen hielten ihn schließlich davon ab.
  „Ha!“, erklang es triumphierend.
Pablos Augen, die nach stundenlanger Finsternis immer noch Schwierigkeiten mit dem plötzlich aufgetauchten Licht hatten, begannen wieder zuverlässiger zu funktionieren. Von der großen Höhle, aus der sie kamen, [Pablo vermutete zumindest, dass es eine war] war hier im beleuchteten Bereich nichts mehr zu erahnen. Soweit Pablos Auge reichte, sah er einen schmalen Gang, der bergab weiter in das Felsmassiv hinein führte. Dazu ist allerdings zu sagen, dass sich das anfangs so hell erscheinende Licht nach kurzer Eingewöhnungsphase als gar nicht mehr so hell herausgestellt hatte und Pablo in dem schummrigen Glühen nicht wirklich weit sehen konnte.
Das Glimmen war von orangener Farbe, es verbreitete dadurch zwar Wärme, wirkte aber andererseits auch bedrohlich. Erzeugt wurde es von einer Art Schimmelpilz oder Flechte, die an den groben, feuchten Felswänden flächendeckend wuchs.
  „Na gut, du hattest Recht. Aber bringt uns das wirklich weiter? Nein. Das Licht ist kein Ausgang und es geht nur bergab, was ich persönlich für die falsche Richtung halte. Also weiter.“
  „Pff“, schnappte Poncho empört. Doch auch er konnte seinen Triumph nicht richtig auskosten, da seine Entdeckung ihre Lage nur unwesentlich verbesserte.
Und so ging es weiter unter die Erde. Der Gang veränderte sich kaum, mal wurde er breiter, mal schmaler, doch er führte stetig bergab.
Nach einer weiteren, scharfen Biegung, die genau so aussah, wie all die anderen zuvor, entfuhr den beiden Wanderern ein Laut des Erstaunens.
  „Das gibt’s ja nicht!“ Pablo hatte als erstes seine Fassung wieder errungen.
  „Na anscheinend doch.“
Vor den beiden erstreckte sich die größte Höhle, die sie jemals gesehen hatten. Wie groß sie wirklich war, konnten sie gar nicht abschätzen, denn der Boden war übersät mit Felstrümmern, die vom kleinen Steinchen bis zum haushohen Brocken reichten. Zusätzlich wuchsen so viele Stalagmiten und Stalaktiten aus dem Boden und der Decke, dass Pablo und Poncho sich vorkamen wie in einem riesigen Labyrinth aus Säulen.
  „Meinst du, es ist gefährlich? Es könnte uns fressen“, sprach Pablo und deutete auf den Boden. Die Feuchtigkeit von den Wänden schien in der Höhle zusammenzulaufen, es gab mehrere kleine Bäche. Die Flächen zwischen diesen Wasserläufen waren von einer Art Alge bewachsen, auf die sich Pablos Frage bezog.
Die dicken Algenteppiche glühten, wie die gesamte Höhle, in dem bereits bekannten, rötlichen Licht.
  „Es ist eine Alge. Algen fressen keine Menschen.“
  „Woher willst du das wissen? Du bist kein Mensch, also kennst du dich auch nicht mit Menschen aus. Und schon gar nicht mit Lebewesen, die Menschen fressen. Ich habe schon von Raubtieren gehört, die aussehen wie dicke, saftige Moosbüschel, aber ganze Wildschweine verschlingen können. Wenn mir in einer komischen Höhle eine derart verdächtige Alge begegnet, bin ich nun mal vorsichtig!“
  „Das ist wieder typisch Mensch. Ihr mit den eingeengten Bahnen, in denen ihr denkt. Immer nur Vorurteile! Da begegnet dem feinen Herr einmal ein Moos-Algen-Pilz-Irgendwas-Ding, das nicht grün ist, wie es der feine Herr erwartet, und schon bezeichnet er es als „verdächtig“. Das sind Pflanzen, mehr nicht. Hast du schon mal eine gefährliche Pflanze erlebt?“ Sofort bemerkte Poncho den Fehler in seiner Argumentation, als er an Livenbäume dachte. Doch Pablo schien es in seinem Zorn gar nicht zu bemerken.
  „ So etwas lasse ich mir von dir nicht sagen! Nicht von jemandem, der Menschen regelmäßig mit Würstchen vergleicht!“
  „Warum denn auch nicht? Ein Haufen Fleisch unbekannter Herkunft, das von einer Art Haut zusammengehalten wird. Kaum zu etwas zu gebrauchen, aber trotzdem beliebt.“
Jetzt reichte es Pablo.
Er streifte den aufsässigen Poncho von der Schulter, warf ihn etwas fester als notwendig auf den Steinboden und trat mit einem großen Schritt in die leicht wogende Algenmasse. Innerhalb weniger Sekunden war er bis zur Hüfte eingesunken.
Er versuchte sich freizustrampeln, doch es brachte nichts. Die Algen schienen ihn festhalten zu wollen und er sank immer weiter in die feuchte Tiefe.
  „Poncho!“, schrie er. „Hilf mir!“
  „Versuche ich doch, aber du musst mir auch zuhören! Ich sagte, du sollst schwimmen. Mach einfach Schwimmbewegungen, Mann!“
Pablo hatte schon eine Antwort auf den Lippen, doch sie kam nicht mehr heraus, da sein Kopf bereits größtenteils unter Wasser war.
Da ihm nichts anderes übrig blieb, versuchte er tatsächlich, Ponchos Rat zu befolgen.
Und tatsächlich, es funktionierte! Schon konnte er wieder frei atmen, selbst nach einer Minute war er noch an der Oberfläche. Keine Alge hatte ihn hinab gezogen, kein wütender Fisch ihm das Bein abgebissen.
Jetzt, wo sein Verstand nach dem ersten Schock wieder etwas klarer war, bemerkte auch Pablo, was Poncho anscheinend viel früher aufgegangen war.
Die Algen bedeckten an dieser Stelle gar nicht den Höhlenboden, sondern waren in einer Art Teich so dicht gewachsen, dass sie wie fester Grund wirkten.
Durch die Schwimmbewegungen wurden die Algen zur Seite geschoben und Poncho schwamm in dem zwar kalten, aber ansonsten ganz normalen Wasser.
  „Wenn du deine dramatische Showeinlage zum Thema Ertrinken nun beendet hast, würde ich gern aufsteigen.
Das Wasser macht mich immer so… schwermütig“, klang es spöttisch vom Ufer.
Tatsächlich sog sich Poncho bei Kontakt zu ausreichenden Mengen an Flüssigkeit innerhalb von Sekunden voll und neigte dazu, wie ein Stein unterzugehen. Deshalb schwamm Pablo zum Rand des Teiches und ließ seinen Gefährten mit einem verächtlichen Schnaufen aufsteigen.
Ihm war die ganze Situation furchtbar peinlich, er konnte förmlich spüren, wie Poncho auf seinem Kopf grinste.
Der wusste dies, sprach kein Wort und kostete die besondere Situation voll und ganz aus. Nach wenigen Minuten hatte Pablo das kleine Gewässer durchquert und stieg aus dem Wasser, das seiner Meinung nach mit jeder Sekunde kälter geworden war.
Hier wuchs zwar ebenfalls ein dichter Algenteppich, aber wieder auf festem Steinboden.
Poncho versuchte noch einige Anspielung zum Thema der Algen zu machen, die sich weiterhin eher matschig und weich als gefährlich präsentierten, doch Pablo ging nach seiner „Nahtoderfahrung“, wie er es nannte, gar nicht erst darauf ein.
Im Schatten [Den es aufgrund der gleichmäßigen Beleuchtung nicht wirklich gab.] eines gigantischen Felsbrockens ließen sich die beiden Gefährten auf einem trockenen Stück Stein zwischen einem Algenfeld und einen kleinen Bach nieder, um sich auszuruhen. Sie tranken ein paar Schlucke von dem klaren Wasser, versuchten sich einigermaßen gemütlich hinzulegen, was nur Poncho, der auf Pablos nicht unbeträchtlichem Bauch Platz nahm, gelang, und schliefen vor Erschöpfung ein.
Die gestaltlosen Augen, die sie die ganze Zeit zu beobachten schienen, waren in diesem Moment vergessen.
Es knirschte leise, als ein großer Fuß feinen Sand auf hartem Fels verrieb. Klauen kratzten über Stein, als ein Wesen versuchte, sich lautlos fortzubewegen. Es verfolgte einen Geruch, den es hier nicht erwartet hatte.
Seine großen, haarigen Füße trugen das Wesen durch einen kleinen Bach, die Kälte machte ihm nicht das Geringste aus.
Da lag sie, die Quelle des Geruchs, und schlief tief und fest.
Lautes Schnarchen erfüllte die abgestandene Luft.
Noch ein kleiner Schritt fehlte, um den Ursprung des Geruchs endgültig zu erreichen. Doch das Wesen hatte nicht mit den glitschigen Algen gerechnet, die sich unter der schaumigen Oberfläche des Bächleins verbargen.
Einige Sekunden lang führte das Wesen einen grotesken Tanz auf, der in praktisch jeder bekannten Kultur zu finden ist und dazu dient, die verlorene Balance zurückzuerlangen, doch das Wesen schien in der Tanzschule nicht aufgepasst zu haben, denn schließlich fiel es. Direkt vor Pablos Füße, was die Sache noch unangenehmer machte.
  „Scheiße!“, entfuhr es dem Wesen.
Pablo und Poncho schreckten schlagartig hoch. Kurz wähnte sich Pablo in einem gemütlichen Bett und hielt die Geräusche, die er wahrgenommen hatte, für einen Alptraum.
Dann wanderte sein Blick über seinen Bauch die Beine herab und schließlich darüber hinaus. Was er dort erblickte, ließ die Illusion der Sicherheit wie eine Seifenblase zerplatzen.
Direkt vor seinen Füßen lag ein riesiger Schädel, der, abgesehen von der enormen Größe, fast menschlich aussah, wäre da nicht die starke Tendenz in Richtung Affe gewesen.
Doch auch mit einem Affenkopf ließ sich dieses Exemplar nicht wirklich vergleichen, war doch das gesamte Gesicht von schneeweißem Fell bewachsen. Auch die gelben, leicht wässrig wirkenden Augen waren um ein vielfaches größer, als man selbst bei einer so gewaltigen Visage erwartet hätte.
Als die Kreatur entschuldigend grinste, entblößte sie vier riesige Eckzähne, die den Eindruck erweckten, sie könnten einer Rasierklinge noch einiges zum Thema Schärfe beibringen.
Während sich Pablo einfach tot stellte, da er vor Schock sowieso gelähmt war, verließ sich Poncho auf seine weitaus zuverlässigere Tarnung als unbedeutendes Kleidungsstück.
Die merkwürdige Kreatur richtete sich derweil etwas unbeholfen auf, wobei sie Acht gab, nicht erneut auszurutschen und wischte sich Staub und Algengelée aus dem Fell.
In voller Lebensgröße betrachtet fiel auf, dass die Dimensionen des Körpers im Einklang mit denen des Kopfes standen, die Kreatur war mindestens zweieinhalb Meter groß. Vom Körperbau her schien sie eine Mischung aus Gorilla, Mensch und Bär zu sein, wirkte allerdings noch massiver.
Da war sich Pablo jedoch nicht ganz sicher, denn unter dem langen, verzottelten Fell waren die wahren Konturen des Körpers nicht ganz ersichtlich. Einen Schwanz besaß die Kreatur nicht.
Als sich auch nach einiger Zeit die so unsanft Geweckten nicht rührten, zuckte das Wesen mit den Schultern und begann zu sprechen.
  „Tut mir Leid, Jungs. Wollte euch nicht stören, nur gucken, ob hier wirklich noch jemand ist. Gleich zwei Leute, das find‘ ich klasse. Bin auf den verdammten Algen hier ausgerutscht, war wirklich keine Absicht. Haut euch ruhig wieder hin, wir können ja später reden. Bin übrigens Yeti.“
Etwas verschämt kratzte sich Yeti am Hinterkopf, er schien auf eine Absolution hinsichtlich der unsanften Störung zu warten.
  „Wieso sagst du Jungs zu mir?“ war das erste, was Pablo heraus brachte. Eine innere Stimme schalt ihn sogleich für diese unhöfliche und wenig geistreiche Antwort. Eine andere Stimme lobte ihn jedoch, dass er mehr als einen panischen Schrei herausgebracht hatte, somit war Pablo mit sich selbst relativ zufrieden.
  „Na ja, dachte der Poncho da auf dir ist einer von der intelligenten Sorte. Hab mich wohl doch geirrt.“
  „Aber nein, keineswegs!“, erscholl es sofort. Während Poncho sprach, richtete er sich stolz zu seiner vollen Größe auf.
  „Intelligent ist genau der richtige Ausdruck. Die Menschen
sehen sich ja gerne als Krone der Schöpfung an, aber wo wären sie ohne uns? Nackt und unwissend würden sie in der Sonne verbrennen. Es freut mich, einmal jemanden kennen zu lernen, der sich dieser Tatsachen bewusst ist. Poncho ist mein Name.“
Pablo traute Yeti noch nicht weit genug, um sich jetzt über seinen Begleiter zu ärgern. Er wollte noch mehr über den nächtlichen [Ohne Tageslicht war für Pablo immer dann Nacht, wenn er schlief.] Besucher erfahren.
  „Bist du ein Yeti oder ist Yeti dein Name?“
  „Beides.“
  „Woher kommen Yetis? Ich habe noch nie von ihnen gehört, dabei bin ich Monsterjäger. Nicht, dass ich dich zu Monstern zählen würde, aber ich könnte mir vorstellen, dass manch ungebildeter Bauer dich für so etwas hält.“
  „Tja, er ist leider ziemlich ungebildet“, entschuldigte sich Poncho, der ebenfalls nicht die geringste Ahnung hatte, was ein Yeti sein sollte, für seinen menschlichen Begleiter.
Es kam nicht allzu oft vor, dass er als intelligent bezeichnet wurde. Dieses Attribut wollte er um keinen Preis wieder aberkannt bekommen.
Yeti hingegen schien sich um solche Dinge keinerlei Gedanken zu machen.
  „Schon in Ordnung. Wohnen weit weg in den Bergen, weit im Norden und auch ein wenig im Osten. Bin mit meinem Freund Hornleid hier. Ist auch ein Mensch.“
  „Was führt einen Mensch und einen Yeti in dieses merkwürdige Höhlensystem? Ist es üblich, dass ihr Yetis unter Menschen lebt?“
Pablos Furcht schwand und wurde zunehmend durch Neugierde ersetzt. Außerdem konnte es nie schaden, etwas über Lebewesen zu erfahren, mit denen man einfache Bauern und Dorfbewohner einschüchtern oder beeindrucken konnte.
  „Redet zu viel. Bringe euch zu unserem Lager. Gibt Feuer, Essen und Hornleid redet wie eine Ungtulla-Frau. Wird euch gerne antworten. Kommt.“
Die Kommunikation schien den haarigen Koloss wirklich erschöpft zu haben. Müde rieb er sich die riesigen Augen, sein Gang ähnelte einem Schlurfen, als er sich in Bewegung setzte.
Mit einem kurzen Blick [Wenn man sich nur lang genug kennt, ist es durchaus möglich, sich mit einem nicht menschlichen Wesen per Blickkontakt zu verständigen. Ein typisches Beispiel ist der Hundebesitzer, der sich mit seinem vierbeinigen Freund bei allen Gelegenheiten lang und breit unterhält, während er mit seiner Ehefrau selbst an der grundlegenden Kommunikation scheitert. Bewusstseinserweiternde Drogen, zu denen man im entferntesten Sinn auch Alkohol zählen kann, potenzieren diese Fähigkeit.
Es kommt nicht von ungefähr, dass Betrunkene oft stundenlang in ihr Glas stieren. Was meinen Sie, was so manche Gläser alles zu erzählen haben… ]
 verständigten sich Pablo und Poncho. Sie kamen darin überein, dass Yeti trotz seines Äußeren gar nicht gefährlich, sondern eher nett wirkte. Ein Schulterzucken von Pablo besiegelte die Sache.
Poncho legte sich wieder ordentlich um Pablos Schultern, dann begann der Marsch.
Es ging durch Bäche, Kiesfelder, um Felsbrocken herum, darüber hinweg, um Algenteppiche herum und darüber hinweg, Pablo und Poncho hätten bereits nach fünf Minuten den Weg zurück zu ihrem alten Lagerplatz nicht mehr gefunden.
Der Yeti hingegen schien keinerlei Probleme zu haben, sich zurechtzufinden. Mit seinen merkwürdigen Bewegungen, die an ein Kind in einem zu großen Körper erinnerten, legte er ein Tempo vor, dem Pablo kaum folgen konnte.
Sie traten hinter einem weiteren Felsblock hervor.
Vor ihnen erhob sich eine riesige Felssäule, die Höhlenboden und Decke miteinander verband. Selbst an der dünnsten Stelle in der Mitte durchmaß sie noch über zwanzig Meter.
  „Sind da“, sagte Yeti. Erst jetzt entdeckte Pablo das kleine Lager, das am Fuß der Säule aufgeschlagen worden war. Ein kleines Zelt, eine große Bastmatte, auf der vier Menschen liegend Platz gefunden hätten und ein Lagerfeuer verliehen dem Ort sofort eine gemütliche Atmosphäre.
Yeti ließ sich umgehend auf seine Matte fallen, Pablo und Poncho rückten so nah wie möglich ans Feuer. Beide froren, die Feuchtigkeit am Körper und in der Kleidung quälte beide seit Stunden, so wussten sie die Wärme des Feuers mehr zu würdigen als jemals zuvor in ihren Leben.
  „Wo ist denn dein Gefährte jetzt?“, fragte Pablo, dem noch ein weiteres menschliches Wesen fehlte, um sich wieder einigermaßen wohl fühlen zu können.
  „Klettert natürlich. Guck nach oben, da kommt er.“
Tatsächlich. Bei ganz genauem Hinsehen konnte man an der riesigen Felssäule ein dunkles Seil bemerken, das in scheinbar unendliche Höhen führte. Am Ende des sichtbaren Bereiches turnte eine Gestalt an dem Seil herum, in einer Höhe, die sich Pablo nicht einmal vorzustellen wagte, aus Angst, sein Mageninhalt könnte einen Exodus veranstalten.
Schnell näherte sich das kletternde Wesen.
Die Körperform erschien Pablo merkwürdig klobig, er rätselte, ob es nicht doch ein weiterer Yeti war.
Nach einigen weiteren Metern war glücklicherweise zu erkennen, dass es sich tatsächlich um einen Menschen handelte!
Die klobige Form rührte von dem Rucksack her, den der Mann trug. Es war ein gewaltiger, rechteckiger Rucksack mit einer aufgebundenen Rolle, möglicherweise einem Schlafsack oder einer Matte. An allen Seiten ragte das gewaltige Gepäckstück weit über den Rücken des Mannes hinaus.
Der Mann selbst schien immer kleiner zu werden, obwohl er sich rasant näherte. Er war nirgendwo gesichert, schwang jedoch einen riesigen Eispickel, den er immer wieder in den Felsen schlug, um festen Halt zu finden.
Schließlich hatte er den Boden erreicht und sprang mit einer Lässigkeit auf den glitschigen Algenteppich, die Pablo unweigerlich Bewunderung abverlangte, da er selbst bei langsamstem Tempo ständig ausrutschte.
Ansonsten war der Mann wenig bewundernswert, zumindest bezüglich der Körpergröße. Er war ausgesprochen klein.
Fast verschwand er zwischen dem riesigen Rucksack, an dem tatsächlich ein aufgerollter Schlafsack befestigt war und dem ebenfalls unglaublich großen Eispickel, der sich bei näherem Hinsehen als ausgewachsene Spitzhacke herausstellte. Der größte Teil des sichtbaren Körpers verschwand zudem unter einer gewaltigen Masse an Haaren.
Ordentlich rasiert hätte Pablo ihn wohl niemals wieder erkannt. Das einzig auffällige an dem kleinen Mann war, abgesehen von der geringen Größe, die Farbe seiner Haare.
Am Kopf trug er eine blonde Mähne, der Bart war hingegen kohlrabenschwarz und erstreckte sich bis zum Gürtel.
  „Tach!“, grüßte das merkwürdige Männchen. „Hornleid heiß ich. Hätte nicht damit gerechnet, hier noch nen Typen anzutreffen.“
  „Zwei!“, krähte Pablo.
Der kleine Mann guckte verwirrt und suchte nach der Stimme, die scheinbar aus dem Nichts kam.
  „Ist ein Poncho.“, erklärter der Yeti. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Intelligenter Poncho.“
An Hornleids Reaktion erkannte Pablo den weltgewandten Mann, der schon vieles erlebt und gesehen hatte.
Die buschigen, schwarzen Augenbrauen zogen sich verwundert in die blonde Mähne zurück, kamen aber ebenso schnell wieder hervor. Dann begrüßte Hornleid den Poncho, als hätte er täglich mit sprechenden [Poncho hätte jetzt sicherlich eingeworfen, dass er ein intelligentes Kleidungsstück sei, kein sprechendes. Tatsächlich existiert ein gewaltiger Unterschied, auch wenn wir gerne Sprache mit Intelligenz gleichsetzen. Auch Papageien können sprechen, doch mit ihrer Intelligenz ist es nur für tierische Maßstäbe weit her.
Zugegebenermaßen handelt es sich dabei um antrainierte Sätze und keine intelligente Kommunikation, doch in vielerlei Hinsicht ist der Papagei, der mit erheiternder Zuverlässigkeit die Gäste beleidigt, um ein vielfaches intelligenter als so mancher (sprechende) Mensch.]
Kleidungsstücken zu tun.
Pablo hatte den Mund noch nicht ganz geöffnet, um nun selbst einige Fragen zu stellen, da unterbrach der kleine, behaarte Mann ihn auch schon.
  „Na na. Im Stehen redet es sich so schlecht. Kommt in mein Lager, esst, trinkt und dann können wir reden. Kannst du Bauchtanz, Bursche?“
Kurz kämpfte Pablo gegen den Drang, auf der Stelle wegzurennen. Doch die angekündigte Mahlzeit ließ ihn die Frage einfach nur mit „Nein, und ich habe auch kein Interesse, es zu lernen“ beantworten.
Hornleid kommentierte dies mit einem
„In Ordnung, ich verstehe schon“, das er wohl schon ziemlich oft von sich gegeben hatte.
Daraufhin bereitete er Pablo und Poncho das beste Mahl ihres Lebens.
Es bestand aus verbrannten Würstchen und einer Art Bohneneintopf, den Hornleid merkwürdigerweise in Metalldosen mit sich herum trug.
Aber mit der Belastung durch hohes Gewicht oder unsinnigen Gegenständen schien der Mann, Pablos Meinung nach, sowieso nicht viel am Hut zu haben.
Dazu gab es einen äußerst schmackhaften Tee, den Hornleid, wie er behauptete, aus den überall vorhandenen Algen kochte.
Nach dieser erlösenden Mahlzeit wollte Pablo endlich wissen, mit wem er es genau zu tun hatte.
Er vertraute den beiden merkwürdigen Gesellen zwar, sie erschienen ihm nach dem ersten Schock durchaus sympathisch, doch allein die Tatsache, dass Hornleid und der Yeti in dieser furchtbaren Höhle unterwegs waren, ließ sie ziemlich verrückt erscheinen. Dieser Verrücktheit wollte Pablo auf den Grund gehen.
Wieder kam ihm Hornleid zuvor.
  „So, gegessen haben wir. Jetzt kannst du all deine Fragen stellen und ich werde dir antworten, so gut ich kann“, erscholl es aus dem Bart, bei dem sich Pablo nicht mehr sicher war, ob er wirklich überwiegend aus Haaren oder doch eher aus Bohneneintopf bestand. Um auf die Menge Eintopf zu kommen, die er in seinem Bart verteilt hatte, musste er eigentlich noch zusätzlichen Eintopf erbrochen haben. Satt konnte er jedenfalls nicht sein.
  „Erst einmal vielen Dank für das Essen“, setzte Pablo an.
Bei einem winzigen Mann, der selbst beim Klettern ungefähr hundert Kilogramm Gewicht mit sich herumzutragen schien und zudem noch von einem fast drei Meter großen Albinoaffen begleitet wurde, hielt er ein wenig Höflichkeit durchaus für ratsam.
  „Geschenkt.“
Da für Hornleid die Sache damit erledigt zu sein schien, legte Pablo nun los.
  „Die wichtigste Frage zuerst. Was macht ihr überhaupt hier unten?“
  „Bergsteigen natürlich! Sieht man doch eigentlich an der Ausrüstung“
  „Ich kenne mich zwar nicht besonders gut aus mit der Bergsteigerei, aber… “ Pablo suchte nach einer Formulierung, die nicht danach klang, als halte er sein Gegenüber plötzlich für verrückt.
  „… Macht man das nicht eigentlich in den Bergen?“
Naivität schien ihm die beste Wahl zu sein.
Glücklicherweise schien Hornleid nicht sonderlich empfindlich zu sein. Er lachte erst einmal so laut, sodass der Yeti, der bisher völlig desinteressiert auf seiner Matte geschlafen hatte, erschreckt die Augen aufriss.
Auch Poncho, der sich aufs aufmerksame Lauschen verlegt hatte, hüpfte angesichts der enormen Lautstärke einige Zentimeter zurück. Misstrauisch schaute er zu den dolchähnlichen Tropfsteinen über sich, die bei Hornleids lauter Lache zu vibrieren schienen. Doch es rieselte nicht einmal Staub von der Höhlendecke, also zuckte Poncho mit den Fransen [Die Fransen entsprechen bei einem Poncho ungefähr den menschlichen Achseln. Langwierige Forschungen waren zu dieser Erkenntnis nicht notwendig, man erkannte es sehr schnell am Geruch. Wenn man viel Glück hatte, riecht es nach Deo…]  und machte es sich wieder gemütlich.
Hornleid hatte sich inzwischen wieder gefasst und sprach zu Pablo wie zu einem Kind:
  „Im Prinzip hast du Recht, Kerl. Ich bin vielleicht nicht der größte Bergsteiger der bekannten Welt, aber sicherlich der großartigste. Ich habe eine Menge Berge bestiegen, inzwischen langweilen die Berge mich.
Wir haben von dieser Höhle gehört, mit dieser wunderbaren Tropfsteinlandschaft, also sind wir hierher gekommen.
Und ich sage dir, das Klettern ist eine Wucht! Es fehlt zwar ein bisschen an Gletscherspalten, rutschigem Schnee und dünner Luft, doch dafür gibt es keine langweiligen Wiesen und sanfte Hänge, sondern es geht immer mindestens senkrecht nach oben. Ritz mal dein Kreuzchen da oben in die Höhlendecke, danach fühlst du dich wie neu geboren, sag ich dir. Auch der Ausblick ist einfach der Hammer.“
  „Ist wahrscheinlich so ähnlich, wie auf einen Igel herabzusehen“, versuchte Pablo Verständnis vorzutäuschen. Sein Blick schweifte unauffällig in Richtung der Höhlendecke, die teilweise nach einigen hundert Metern in Nebel und Dunkelheit verschwand. Ängstlich kehrten seine Pupillen in eine Position zurück, in der sie Hornleid fixieren konnten.
"Was macht ihr zwei Typen denn hier drin? Ihr scheint ja keine Bergsteiger zu sein", fragte nun Hornleid.
"Wir wurden hereingelegt. Man warf uns in eine Höhle, damit wir von einem Monster gefressen werden. Doch dieses Höhlensystem ist gigantisch, viel größer als alle dachten. Glücklicherweise haben wir auch noch kein Monster gesehen. Eigentlich ist es sogar ganz nett hier." Das war eine glatte Lüge. Es erschien Pablo ratsam, ihren seltsamen Retter bei Laune zu halten. Sich selbst und Poncho als Opfer darzustellen, hielt er auch für wesentlich klüger, als seine eigene betrügerische Absicht, die sie in diese Lage geführt hatte, zu gestehen.
"Tja, das mit dem Ausgang ist so eine Sache. Wir sind schon absichtlich in dieser Höhle, aber eigentlich wollten wir auch durch einen normalen Eingang hier herein."
"Wenn ihr nicht durch einen Eingang gekommen seid, wie dann?"
"Wir sind eingebrochen. Nichtsahnend stapften wir mehr oder weniger fröhlich durch dieses merkwürdige, trockene Land mit den gefährlichen Bäumen, da brach plötzlich der Boden unter uns ein. Wir landeten in einem unterirdischen Fluss, der uns nach einigen Tagen zu dieser großen Höhle führte. Da oben ist ordentlich was zusammengekracht, das haben wir noch einige Stunden später rumpeln gehört. Einen Ausgang wird‘s da wohl nicht mehr geben. Und wo du das Monster erwähnst… Einige merkwürdige Sachen sind uns schon aufgefallen… "
Pablos wohliges Gefühl war wie weggeblasen. Sofort waren die unsichtbaren Augen wieder da. Aus Ponchos Ecke ertönte ein Schaben, als er sich verkrampfte. Pablo traute sich kaum, die entscheidende Frage zu stellen.
"Was für merkwürdige Sachen?"
"In der Gegend wo wir abgestürzt sind, gab es wohl vorher schon einige Einstürze. Vielleicht, weil der Boden so trocken ist. Wir haben verschiedene Tiere gefunden.
Sie waren alle tot. An ihren Knochen war kein Gramm Fleisch mehr. Ich habe noch nie etwas gesehen, das derart blanke Skelette zurücklässt."
"Vielleicht lagen sie auch schon sehr lange dort." Warf Pablo hoffnungsvoll ein. Hornleid schauderte. Das Schaudern dieses scheinbar so furchtlosen Mannes jagte Pablo mehr Angst ein, als alles andere, was ihm bisher in den Höhlen widerfahren war.
"Nein, das war definitiv frisch. Ich hätte nicht gedacht, dass so viel Blut in einer einzigen Kuh drin ist. Der Boden und die Wände waren förmlich gestrichen damit."
"Ach, es gibt doch viele Tiere, die über eine verängstigte Kuh herfallen. Ich habe sogar Ratten gesehen, die sich über ein krankes Kalb hergemacht haben." Das entsprach zwar nicht der Wahrheit, aber Pablo wollte um jeden Preis Zuversicht verbreiten.
Hornleid hob die Augenbrauen. Er fragte:
"Greifen Ratten auch ausgewachsene Baumbären an?"
Pablo blieb fast das Herz stehen. Baumbären lebten in den wilden Livenwäldern der Region. Sie ernährten sich hauptsächlich von verirrten Wanderern und Livenkernen. Allein das sagt genug über diese Bärenart aus, neben der ein gemeiner Braunbär wirkt, wie ein Dackel neben einem Wolf. Die einzige bekannte Methode, einen Baumbären zu vertreiben [Daran, sie zu töten, verschwendete man erst gar keinen Gedanken.] war es, seinen Wald anzuzünden und möglichst schnell wegzurennen.
Wenn man Glück hatte, war der Bär nach dem Brand verschwunden. Wenn man Pech hatte, war er ins eigene Dorf geflüchtet. Einige Geisterdörfer zeugten von solchen Unglücken.
Selbst mehrere Jahre nach solch einem Vorfall mieden die Nachbarn das Gebiet des verlassenen Dorfes. Bei einem Baumbären ging man einfach kein Risiko ein.
Die Vorstellung von einem Wesen, dass solch ein Ungetüm anscheinend ohne größere Gegenwehr getötet hatte, machte den sofortigen Suizid fast schon attraktiv.
Die vier Gestalten rückten etwas näher ans Feuer. Sie fühlten sich plötzlich sehr alleine und verloren in dieser riesigen Höhle.
Doch schnell kehrte Hornleids fröhliches Wesen zurück.
"Wir haben noch kein Monster gesehen, dabei hätte es schon genug Möglichkeiten gehabt, uns anzugreifen. Also macht euch mal keine Sorgen, wir passen schon auf, dass nichts passiert. Wenn ihr wollt, suchen wir morgen mit euch einen Ausgang aus diesem Labyrinth."
Pablo fragte sich, was selbst Hornleid und der riesige Yeti gegen ein Wesen ausrichten wollten, dass einfach so einen Baumbären tötete und seine Knochen abnagte, bis sie weiß glänzten. Doch das Angebot, aus der Höhle herausgeführt zu werden, erschien ihm sehr verlockend.
"Das wäre echt klasse. Wir stünden für immer in eurer Schuld!"
"Papperlapupp Schuld. Wo kommen wir denn hin, wenn sich die Menschen gegenseitig nicht mehr helfen." Dass die Hälfte ihrer kleinen Gruppe nicht menschlich war, schien Hornleid nicht zu stören.
"Aber jetzt ist es spät. Wir müssen morgen wieder fit sein. Ich hau mich jetzt aufs Ohr."
Hornleid sprach mit solcher Gewissheit, dass Pablo sich erst gar nicht fragte, wie er in einer Höhle die Tageszeit bestimmen konnte. Der kleine Mann schien generell Möglichkeiten zu haben, die anderen Menschen nicht zur Verfügung standen.
Yeti und Poncho schliefen sowieso inzwischen, also wünschte Pablo seinem Retter eine gute Nacht und machte es sich so gut wie möglich auf dem Höhlenboden bequem.
Bei jedem Geräusch rückte er ein Bisschen näher an das Feuer heran, bis er sich schließlich fast verbrannte.
Dann schnellte er wieder ein Stück in die Dunkelheit hinein, bis ihn die Angst wieder zum Feuer zurücktrieb. So verbrachte Pablo eine äußerst unruhige "Nacht".
Irgendwann tönte es: "Auffi gehts, der Berg ruft! Oder die Höhle, scheißegal. Aber raus aus den Federn!" in einer solchen Lautstärke, dass Pablo innerhalb von Sekundenbruchteilen senkrecht auf seiner Matte saß.
Poncho kroch völlig unbeeindruckt auf ihn zu und legte sich um seine Schultern.
"Na, Dicker, gut geschlafen? Ich dachte, ihr Menschen liegt still, wenn ihr euch ausruhen wollt."
Natürlich hatte Poncho Pablos unerquickliche Nachtruhe mitbekommen. Dieser durchschaute die gespielt gute Laune seines Begleiters sofort, Poncho konnte kaum besser geschlafen haben, wenn er so genau Bescheid wusste.
"War nur eine Ausnahme. Aber du fandest sie wohl so interessant, dass du stundenlang zugucken musstest, hm?", raunte er zurück.
"Ich sehe dich so selten in Bewegung, da lasse ich mir einfach keine Gelegenheit entgehen. Und jetzt hoch mit dem dicken Hinterteil, es geht los."
Poncho hatte recht.
Irgendwie hatte es Hornleid geschafft, innerhalb weniger Minuten das Feuer zu löschen und das komplette Nachtlager bis auf ein Häufchen Asche spurlos zu beseitigen.
Vermutlich war alles in seinem riesigen Rucksack verschwunden. Auf jeden Fall standen er und der Yeti bereit zum Aufbruch und beobachteten Pablo.
Dem hatte seine Nacht auf dem Höhlenboden einige schmerzende Knochen, Gelenke und Muskeln eingetragen, sodass sein Versuch, schwungvoll aufzustehen, von qualvollen Grunz- und Stöhnlauten begleitet wurde. Sogar der ruhige Yeti grinste offensichtlich.
Als die schmerzhafte Prozedur beendet war, fragte Pablo, als sei nichts gewesen:
  „Ihr wisst also wo es lang geht, ja?“, woraufhin das Grinsen des Yetis noch etwas breiter wurde. Hornleid zog nur die Augenbrauen hoch. Wahrscheinlich war ihm der Gedanke, den richtigen Weg nicht zu wissen, gar nicht erst gekommen. Kurz darauf stiefelte er auch entschlossen los und Pablo hatte seine liebe Mühe, dem Bergsteiger zu folgen.
Wieder einmal ging es durch kristallklare Bäche, über glitschige Algen und natürlich über Sand, Kies, Steine und Felsen.
  „Nur für den Fall, würdest du es bemerken, wenn er uns in einem großen Kreis führt?“, raunte es an Pablos Ohr. Er schnaufte nur, das war Antwort genug.
  „Na dann ist ja gut.“
  „Misstraust du ihnen etwa immer noch? Sie hätten schon so viele Gelegenheiten gehabt, uns etwas anzutun, doch sie haben uns immer nur geholfen. Mir scheint, du kannst nicht damit umgehen, dass es jemanden gibt, der noch haariger ist als du“, neckte Pablo.
  „Meinst du den Yeti oder Hornleid?“, kam es zurück und beide kicherten leise. Plötzlich drehte sich auch der Yeti um, er zuckte bedeutungsvoll mit den Ohren. Er grinste freundlich und deutete mit den Händen einen gewaltigen Bart an, bevor er noch einmal zwinkerte und seinen Blick wieder nach vorne richtete.
Auch das letzte bisschen Bedrohlichkeit war nun verschwunden.
Pablo ertappte sich dabei, wie er die Wanderung fast schon genoss. Er hatte sich schon lange mit niemandem mehr so verbunden gefühlt, abgesehen von Poncho.
Fast schien es, als wären die vier Wanderer schon seit Jahren eng befreundet. Trotz allem war der Weg durch das unwegsame Gelände äußerst anstrengend.
Pablo bezweifelte, dass sie schon eine nennenswerte Strecke zurückgelegt hatten. Seine Füße hingegen versuchten bereits nach einer Stunde, ihm äußerst glaubwürdig klar zu machen, dass sie schon mindestens zwei Tage am Stück liefen.
Um sich selbst und seine Füße von Erschöpfung und Schmerz abzulenken, begann er wieder ein Gespräch mit Hornleid.
  „Wie kommt es eigentlich, dass ihr beide gemeinsam unterwegs seid?“
  „Hö?“ Hornleid schien die Frage gar nicht zu verstehen, also ergriff Poncho das Wort:
  „Er will dir Folgendes sagen: Normalerweise ist ein Mensch schon seinem Artgenossen aus dem Nachbardorf gegenüber so misstrauisch und ablehnend eingestellt, dass er mit ihm möglichst nichts zu tun haben möchte. Deshalb wundert es unseren Botschafter für Völkerverständigung, dass du ausgerechnet mit einem Yeti unterwegs bist, der mit einem Menschen noch weitaus weniger zu tun hat. Das soll ein Kompliment sein.“
  „Hat mir das Leben gerettet“, ergriff überraschenderweise der Yeti selbst das Wort.
  „Musste ihn für ein Jahr und einen Tag begleiten und beschützen, um Schuld abzutragen.“
  „Vergiss nicht zu erwähnen, dass das inzwischen sechs Jahre her ist“, mischte sich nun auch Hornleid ein. „Kannst ruhig zugeben, dass wir ein gutes Team sind, alter Brummbär.“
  „Hast Recht. Wollte mehr von der Welt sehen als nur das Mittelgebirge, wo Yetis leben. Aber alle Yetis sind faul und fühlen sich wohl, wo sie sind. „Auf dem benachbartem Berg liegt auch nur Schnee, selbst wenn er in der Sonne glitzert“, lautet ein altes Yeti-Sprichwort. So denken sie alle zu Hause.
Aber Hornleid hat mir gezeigt viel von der Welt.
Berge ohne Schnee, Schnee ohne Berge, Berge unter der Erde und noch vieles mehr. Hab‘ Dinge gesehen, würde mir zu Hause niemand glauben.“
  „Und Yeti ist einfach der beste Begleiter, den man sich vorstellen kann“, ergänzte Hornleid. „Er ist nicht so furchtbar… menschlich.“
  „Und endlich seht ihr es ein!“, krähte Poncho dazwischen. „Wir nicht-Menschen sind einfach die besseren Menschen.“
Pablo verdrehte die Augen.
Als er bemerkte, dass Hornleid ihn ansah, blickte er zurück. In diesem Moment verstanden sie sich gut.
  „Wahrscheinlich kommt auch er mit anderen Menschen nicht besonders gut aus. Dafür haben wir beide einen guten Freund gefunden, den andere Menschen kaum akzeptieren würden“, versuchte Pablo sich das plötzliche Gefühl des gegenseitigen Einverständnisses zu erklären.
Inzwischen waren sie, ohne dass er es bemerkt hatte, dem bzw. einem Rand der Höhle näher gekommen.
Die Decke hatte sich so weit herabgesenkt, dass man sie deutlich erkennen konnte. Erst jetzt fiel Pablo auf, wie unheimlich es gewesen war, sich in einer Art geschlossenem Raum zu befinden, dessen Begrenzungen man nicht sehen konnte.
Doch dieses angenehme Gefühl konnte er kaum genießen, denn mit jedem Meter, den sie zurücklegten, näherte sich die Höhlendecke dem Boden.
Es dauerte nicht mehr lange, da musste Yeti bereits den Kopf einziehen. Noch ein bisschen später und Pablo musste gebückt laufen, was seinem geschundenen Rücken gar nicht gut tat. Bevor Hornleid in die gleiche unangenehme Situation kam, trat allerdings ein ganz anderes Problem auf.
Direkt vor ihnen standen die Stalagmiten und Stalaktiten so dicht, dass ein Durchkommen eigentlich unmöglich schien.
Hornleid brummelte etwas und holte einen Kerzenstummel aus seinem gigantischen Rucksack. Er zündete ihn an und warf ihn gekonnt zwischen den Felsnadeln hindurch.
Es war gut zu erkennen, dass sich dahinter ein Gang erstreckte. Die Freude über einen Ausgang hielt sich bei Pablo allerdings in Grenzen, denn er sah keine Möglichkeit, die Hindernisse zu überwinden.
  „Wir müssen.“, sagte Hornleid nur. Genau so sicher, wie er diesen Gang in der riesigen Höhle gefunden hatte, schien er nun zu wissen, dass es der einzige seiner Art war, zumindest in erreichbarer Nähe.
Er zog seinen Eispickel, der eigentlich eine Spitzhacke war, hervor und zauberte aus den Tiefen des Rucksacks noch eine zweite hervor.
Diese war noch ein gutes Stück größer und augenscheinlich für den Yeti bestimmt.
  „Hornleid… “, brummte dieser scheinbar ziemlich unglücklich.
  „Die Dinger sind instabil. Kann verdammt gefährlich werden.“
Der bärtige Mann brummte zustimmend, doch er starrte bereits konzentriert in den Wald aus Felsnadeln. Schließlich antwortete er doch noch.
  „Nur die wegstrategisch wichtigen, S-Elemente stehen lassen … Wobei sich mindestens eins nicht vermeiden lassen wird.“
  „Wenn nicht sogar zwei“, kam die Antwort vom Yeti.
  „Maximale N-E?“
  „Zehn.“
Zweifelnd hob der Yeti seine Augenbrauen, nach einem weiteren Blick auf das Hindernis nickte er aber zustimmend.
  „Bitte was ist los?“, fragte Poncho leise. Als Pablo nur ratlos die Achseln zuckte, wandte sich Hornleid zu ihnen um. Er hatte den Mund bereits geöffnet, doch da erinnerte er sich, dass er es mit völlig unerfahrenen Leuten zu tun hatte. Gedanklich strich er seine Instruktionen zusammen und sagte nur noch:
  „Wir werden ein paar von diesen Dingern umhacken. Es kann gut sein, dass dabei etwas einstürzt. Das ganze wird verdammt gefährlich, wenn ich JETZT rufe, rennt ihr in den Gang. Ohne zu zögern, egal was passiert. Verstanden?“
Pablo nickte und Poncho gab mit belegter Stimme ein leises „Jo“ von sich. Wenn man genauer darüber nachdachte, war es in der großen Höhle ja gar nicht so übel gewesen. Es gab Wasser, viel Platz und…
Doch da fingen Hornleid und der Yeti schon an, mit den Spitzhacken die Felsnadeln zu bearbeiten.
Eigentlich hatte Pablo das Durchschlagen der bis zu einen Meter dicken Felsen für eine kaum zu bewältigende, zumindest äußerst langwierige Angelegenheit gehalten.
Als er jedoch sah, mit welcher Kraft und Geschwindigkeit die zwei Bergsteiger zu Werke gingen, änderte er seine Meinung.
Hornleid schien, vor allem in Anbetracht seiner Größe, über gewaltige Kräfte zu verfügen. Ohne ein Anzeichen von Anstrengung schwang er seine Spitzhacke und schlug den harten Fels in Stücke. Doch auch Hornleids kräftigste Schwünge wurden von den Schlägen in den Schatten gestellt, die der gewaltige Yeti austeilte. Er grunzte und knurrte dabei ohne Unterlass, wirkte wie ein rasendes Tier.
Was nur nach roher Gewalt aussah, bestand offensichtlich auch zu einem großen Teil aus guter Technik. Die Felsnadeln fielen meist schon nach wenigen Schlägen, und das in eine anscheinend genau vorberechnete Richtung, denn keine einzige fiel dort auf den Boden, wo Hornleid ihren Weg eingeplant hatte.
Schließlich machten sich Hornleid und Yeti an einer besonders dicken Säule zu schaffen. Als diese plötzlich fiel, zitterte die ganze Höhlendecke.
Was Yeti zum Thema Stabilität geäußert hatte, schien durchaus zutreffend zu sein. Es rieselte kleine Steinchen, ab und zu löste sich sogar ein Felszapfen von der Decke und sauste als gefährliches Geschoss zu Boden.
Ein tiefes Grollen drang von überall her auf Poncho und Pablo ein. Dann war es so weit.
"JETZT!", brüllte Hornleid.
Pablo zögerte nicht und rannte gebückt auf den hoffentlich rettenden Gang zu. Er wollte keine Sekunde länger in dieser Höhle bleiben, die sich zunehmend mit einem gefährlichen Gemisch aus kleinen Steinchen, Staub und herabfallenden Felsteilen füllte.
Gerade war auch Pablos Fuß in dem kleinen Gang verschwunden, da tat es einen gewaltigen Schlag, ein Donnern setzte ein und gewaltige Staubschwaden quollen aus der großen Höhle.
Gequält schloss Pablo die Augen, Poncho murmelte etwas von ehemals schönen Farben und ausklopfen, genau war es aber nicht zu verstehen.
Gebannt lauschten beide nach dem Ton, den schlagende Spitzhacken von sich geben, doch da war nichts. Das Donnern ebbte langsam ab, Totenstille [Dieser Begriff ist eigentlich überhaupt nicht zutreffend. Wer schon einmal das Vergnügen hatte, sich in den Sphären aufzuhalten, in denen man auch frisch Verstorbene vorfindet, kann dies sicherlich bezeugen. Die Toten fangen normalerweise aufgeregt und verwirrt an zu plappern. Möglicherweise wäre es besser, einen Begriff wie "Totengeschnatter" zu verwenden. Totengeschnatter kann man sich als unverstorbener Leser wie das vorstellen, was die Luft erfüllt, wenn man in einem großen Saal aufhält, in dem eine Party stattfindet. Aber es gibt nun mal einige Dinge, die von einem Schriftsteller erwartet werden, deshalb halte ich, wider besseren Wissens, an der Totenstille fest.]  erfüllte die Luft.
Nichts rührte sich.
Pablo seufzte verzweifelt. Er wusste ganz genau, dass er es ohne die zwei Bergsteiger wohl niemals hier herausschaffen würde. Auch stimmte es ihn traurig, die beiden gerade erst gewonnenen Freunde schon wieder verloren zu haben.
Plötzlich teilte sich der Vorhang aus Staub und eine riesige, graue Masse schob sich in den Gang. Sie grunzte: "Da sind wir!" und Pablo erkannte die Gestalt als den völlig eingestaubten Yeti. Er trug Hornleid wie einen Sack über die Schulter gelegt, hielt ihn nur an einem Fußgelenk fest.
Nur wenige Sekunden später erklang ein kurzer Schnarcher und Hornleid begann, den Yeti wüst zu beschimpfen, er möge ihn doch endlich loslassen.
Als Hornleid stand, sah man, dass auch er völlig mit Staub bedeckt war. Nur einige rote Spuren lockerten das Grau an den Stellen auf, wo ein paar Tropfen Blut aus den unzähligen Kratzern und Schnittwunden flossen, die er sich in der Höhle zugezogen haben musste.
Niemand hielt es für nötig, noch etwas zu sagen.
Sie sahen sich alle einmal respektvoll an, dann klatschte Hornleid Pablo mit der flachen Hand auf den Hintern und rief fröhlich: "Auf geht‘s, stehend kommt man nirgendwo an."
Erschreckt sprang Pablo fast bis an die Höhlendecke, doch er schob Hornleids Ausrutscher auf dessen Erleichterung, noch am Leben zu sein und ließ es dabei bewenden.
So trabten die die drei grauen Gestalten, die eigentlich vier Gestalten waren, los.
Auch dieser Gang wurde beleuchtet von den allgegenwärtigen Flechten und glich dem, durch den Pablo und Poncho bereits am Anfang ihrer unterirdischen Reise geirrt waren.
Nach kurzer Zeit stellte Pablo fest, dass es sich um eine Art Labyrinth handeln musste, denn der Gang gabelte sich ständig.
An jeder dieser Gabelungen blieb Hornleid stehen, überlegte kurz und betrat sicheren Schrittes eine der beiden Öffnungen.
Nach welcher Methode Hornleid seine Entscheidungen traf, war Pablo vollkommen schleierhaft, doch es sah immer sehr selbstbewusst aus.
An einer dieser Kreuzungen geschah es. Plötzlich waren die unsichtbaren Augen wieder da, stärker als je zuvor. Pablo wusste, dass er sie sich dieses Mal nicht einbildete, denn auch Hornleid und Yeti waren ruckartig stehen geblieben, während Poncho sich schmerzhaft um seine Schulter verkrampfte.
"Das Monster", hauchte Pablo nur. Gerade noch war er so zuversichtlich gewesen, nun schien es keine Möglichkeit mehr zu geben, dem Tod zu entrinnen.
Hornleid brummte irgendetwas, nahm seine Spitzhacke fest in die Hand und reichte Pablo ein Messer, das wie eine abenteuerliche Kreuzung aus Bohrer, Schwert und Säge wirkte. Pablo bezweifelte, dass es ihm etwas nützen würde, doch er war ausgesprochen dankbar, nicht mit bloßen Händen gegen das Monster antreten zu müssen. Kurz blitzen in seinem Kopf Bilder auf, wie er durch einen Glückstreffer die Bestie zerteilte oder durch einen heldenhaften, aber aussichtslosen Kampf mit anschließendem Opfertod seinen Begleitern die Flucht ermöglichte.
Wieder einmal schien Poncho seine Gedanken gelesen zu haben.
"Es gibt keinen heldenhaften Tod, du Narr", flüsterte er ihm ins Ohr. Die Bilder in Pablos Kopf zerplatzten wie von einer Nadel zerstochene Seifenblasen. Neue Bilder machten sich breit. Er selbst, blutend, mit schrecklichen Bisswunden übersät, von seinen eigenen Innereien umringt, tot am Boden.
Ein leises Scharren ertönte, die Richtung konnte Pablo nicht bestimmen. Auch dies hatte er sich nicht eingebildet. Hornleid, Pablo und der Yeti, dessen Fell gesträubt war, rückten immer näher zusammen.
Schließlich standen sie Rücken an Rücken, von Angst erfüllt, doch bereit, sich zu verteidigen, was immer da kommen möge.
Lässig ließ Hornleid den Schaft der Spitzhacke in die Handfläche seiner linken Hand klatschen.
Dieses Mal war Pablo sich allerdings sicher, dass die Zuversicht, die diese Geste vermittelte, nur gespielt war.
Das Scharren wurde lauter.
Dann kam das Monster. Eine riesige Masse Fell schob sich rasend schnell aus einem der Gänge heran.
Kurz darauf konnte Pablo erkennen, dass es sich nicht um ein Monster handelte, sondern um viele. Jedes von ihnen hatte die Form einer Kugel, die von langem Fell in allen möglichen Braun- und Grauschattierungen bedeckt war. Aus dem zottigen Fell ragten dürre, aber lange Arme und Beine hervor, die vollkommen fellfrei, aber dafür mit einer ledrigen, grauen Haut bedeckt waren.
In den Händen hielten die Wesen große Holzkeulen, die sie bedrohlich schwangen. Doch das Bedrohlichste waren nicht diese Keulen, sondern die riesigen Mäuler der Kreaturen.
Der ganze runde Körper schien auf der Vorderseite nur aus einem riesigen Maul zu bestehen, gierig aufgerissen und mit dutzenden scharfer, dreieckiger Zähne besetzt.
Wie eine Flutwelle rollten diese nur hüfthohen Monster heran, übereinander, hintereinander, durcheinander.
Das alles geschah ohne ein einziges Geräusch, die Kreaturen kreischten nicht, brüllten nicht und grunzten nicht. Nur ihr Fell erzeugte ein unheimliches Rascheln, das Scharren verursachten die ledrigen Füße, wenn sie über den rauen Felsboden rutschten
Dann war die erste Bestie heran und Hornleids Spitzhacke traf sie mitten in den Kopf, was im Nachhinein betrachtet keine große Kunst war, da sie schließlich aus kaum etwas anderem bestand.
Trotzdem klappte die Kreatur zusammen und verschwand unter ihren herannahenden Artgenossen.
Es folgte ein Kampf, an den sich Pablo später kaum noch erinnern konnte.
Die Monster waren schnell und viel stärker, als Pablo erwartet hatte. Doch sie kämpften ohne jegliche Taktik, stürzten sich blindlings in Spitzhacken, Klauen und überdimensionierte Sägemesser. Es war wie ein Rausch.
Pablo hackte und stach beinahe blindlings um sich, wehrte eisenharte Holzknüppel mit seiner eigenen Waffe ab, doch die Angreifer wurden nicht weniger. Natürlich kamen nicht für jeden gefallenen Angreifer zwei neue nach, dies würde bereits nach wenigen Minuten zu einem unlösbaren Platzproblem führen, aber immerhin wurde jedes gefallene Monster sofort durch einen Artgenossen ersetzt. Das reichte auch.
Vor allem der Yeti wütete unter den Angreifern. Er brüllte und knurrte und schnappte mit seinen Zähnen, die plötzlich gar nicht mehr an sein breites Grinsen, sondern an das Gebiss eines riesigen Raubtieres denken ließen, nach den Angreifern. Beinahe nebensächlich teilte er mit seinen haarigen Pranken gewaltige Hiebe nach allen Seiten aus, welche die Fellkugeln nur so durch die Gänge schleuderten.
Wieder einmal wurde Pablo, der die Konsequenzen von Yetis ungezügelter Wut aus den Augenwinkeln mitbekam, klar, wie groß der Yeti wirklich war und wie sehr seine Kräfte denen eines Menschen überlegen waren.
Die Schläge der kleinen Monster schien Yeti gar nicht zu spüren.
"Warum beißen sie nicht?", fragte sich Pablo. Mit ihren weit aufgerissenen Mäulern hätten die kleinen Wesen dem Yeti schon längst tiefe Wunden zufügen können, doch aus irgendeinem Grund schienen sie darauf zu verzichten.
Auch erinnerte sich Pablo nicht daran, selbst mit dem Maul attackiert worden zu sein. Doch die Freude darüber war nur von kurzer Dauer.
Mit einer Wucht, die Pablo den hüfthohen Fellkugeln niemals zugetraut hätte, traf ihn einer der Knüppel in die Magengegend. Er klappte augenblicklich zusammen.
Ein mitfühlendes Fluchen von Poncho war das letzte, was er hörte, dann wurde es schwarz um ihn, als ihn mindestens ein weiterer Knüppel am Kopf traf.


***



Seit mehreren Stunden schritt Fräulein Pfeffer nun durch den dichten Wald und sie dachte gar nicht daran, langsamer zu werden. Wer hier auf dem Land alt werden wollte, musste laufen können. [Selbstverständlich reden wir hier nicht von der Strecke vom Bett bis zum Nachttopf, sondern eher von Waltrauds Wurstwaren bis nach Hause, während es in Strömen regnet. Dieser „Weg“ wurde gelegentlich auch eingesetzt, um die Qualität neuer Pferde zu testen. Überlebte es, war es ein gutes Pferd.] Außerdem trieb der Zorn sie immer noch an, ihr Krückstock bohrte tiefe Löcher in den weichen Waldboden.
Viele Leute hätten den Wald wahrscheinlich als unheimlich empfunden. Die großen, alten Bäume standen so dicht beieinander, dass man abseits des Weges keine zehn Meter weit sehen konnte. Dazwischen erstreckte sich ein wahrer Urwald aus Büschen, Farnen und Moosbüscheln. Letztere sahen äußerst weich und gemütlich aus, diese Sitzkissen der Natur luden förmlich zu einer kleinen Rast inmitten der grünen Idylle ein.
Allerdings hatte Fräulein Pfeffer schon einmal gesehen, wie ein junges Reh darauf trat, mit einem schmatzenden Geräusch verschwand und nie wieder zurückkehrte.
Im Nachhinein betrachtet hatte sie es zwar etwas merkwürdig gefunden, dass ein Moosbüschel stank wie ein Rudel Füchse und an seinen Rändern scharfe Zähne trug, aber wer konnte denn auch mit so etwas rechnen? Seitdem hielt sie sich vorsichtshalber von jeglichem verdächtigen Grünzeug fern, was natürlich keinesfalls mit Angst zu verwechseln ist.
Angst ist etwas, das Stadtbewohner im Wald haben, weil sie an Wölfe und Bären denken. In diesem Wald gab es ebenfalls Wölfe und Bären, warum auch nicht, doch um sie machte Fräulein Pfeffer sich nicht die geringsten Gedanken.
Im Gegensatz zu verhaltensgestörten Moosen besaßen Wölfe und Bären eindeutig ein Gehirn, was mehrere Vorteile mit sich brachte. Erstens versetzte es die Tiere nach einigen Lektionen in die Lage, einen kilometerweiten Umweg zu gehen, wenn sie Fräulein Pfeffers Geruch wahrnahmen, zweitens bot es eine gute Möglichkeit, die Tiere dennoch los zu werden, indem man nur kräftig genug darauf schlug.
Langsam wurde es dunkel. Gerade im Wald, dessen Boden aufgrund der dicht belaubten Bäume kaum ein Lichtstrahl erreichte, war die Sicht nun deutlich schlechter als noch vor einer Stunde.
Fräulein Pfeffer lief etwas langsamer, was ihr durchaus sinnvoll erschien, da ein langsames Tempo immer noch schneller ist als das, was man mit einem gebrochenen Knöchel zu Stande bringt.
Außerdem hatte sie etwas gehört. Sie wusste nicht genau, ob sie es sich eingebildet hatte, wenn die Augen nicht mehr richtig sahen, verfiel auch das Gehör schnell in Panik und neigte dazu, merkwürdige Dinge wahrzunehmen.
Doch falls da wirklich etwas war…
Sie packte den Krückstock fester und blieb stehen um zu lauschen. Da ertönte hinter ihr eine helle Stimme:
  „Zur Hülf, zur Hülf! Der Wolf ist hier, der Wolf ist hier!“
Während sich Fräulein Pfeffer noch wunderte, welcher Mensch denn tatsächlich „Zur Hülf“ rief, reagierte ihr Körper instinktiv und suchte mit erhobenem Krückstock den Wald ab, der sich immer weiter auf den schmalen Weg zu schieben schien, während man nicht hin sah.
Dabei fiel ihr Blick auch auf die Person, die anscheinend von einem Wolf verfolgt wurde.
Es war ein Mädchen, sie… .
Fräulein Pfeffer stutzte. Es musste ein Mädchen sein, dachte sie, aber… Die Frau… Das Mäd…
Ihr Gehirn versuchte mit widersprüchlichen Eindrücken klarzukommen, schaffte es aber nicht ganz. Also führte es erst einmal eine reine Beobachtung durch, sollte sich doch jemand anders mit der Interpretation des Gesehenen beschäftigen.
Die weibliche Person hatte strohblondes Haar, das zu zwei Zöpfen geflochten war, die links und rechts am Kopf herab fielen. Darüber trug sie eine Unterhos… Ein Stück Stoff.. Eine rote Unterhose, die aus unschicklich wenig Material zu bestehen schien und wie ein Tuch über dem Kopf zusammengebunden war. Das Gesicht war zwar eindeutig weiblich, im Dunkeln aber nicht genauer zu erkennen.
 Das mädchenhafte Kleid, ebenfalls rot, saß an den dicklichen Oberschenkeln derart knapp, dass … Fräulein Pfeffer nur hoffen konnte, das Tuch auf dem Kopf sei nur die Ersatzunterhose des Mädch… Der Person. Zum Beispiel für den Fall, dass sie sich einmal bücken- oder auf einem Stuhl Platz nehmen musste.
Der enorme Busen, der durch wenige Quadratzentimeter roten Stoffes nicht annähernd verhüllt wurde, bestätigte Fräulein Pfeffer in der Annahme, dass es sich, trotz des Kleides und der Zöpfe, keinesfalls um ein Mädchen handeln konnte.
Nachdem Fräulein Pfeffers Augen sich wieder so weit zurückgezogen hatten, dass die Nasenspitze wie gewohnt das Gesicht anführte, rang sie kurz um Fassung und fragte dann mit ruhiger Stimme, für die sie sich selbst bewunderte:
  „Kann ich Euch irgendwie helfen, gute… Frau?“
  „Ohhh, zur Hülf, zur Hülf! Ich bin Rotkäppchen und der böse, böse Wolf ist hinter mir her und will mir gar schreckliche Dinge antun!“
Da war er auch schon! Ein knisternder Zweig, eine Bewegung in der Dunkelheit. Fräulein Pfeffer fuhr herum und schlug zu. Gusseisen traf auf Wolfsfell, ein Stöhnen, ein Schrei, der verdächtig nach „Was… Ahhhrggh“ klang, und das Untier stürzte.
  „Was tust du denn da?“, kreischte Rotkäppchen plötzlich, rannte zu dem gestürzten Wolf und kniete neben ihm nieder.
Fräulein Pfeffer entrang ihren Instinkten und Reflexen die Kontrolle über den Körper, um einen genaueren Blick auf das erlegte Raubtier zu werfen. Irgendetwas stimmte damit nicht.
Es war eindeutig ein Wolf, das erkannte man am Fell, aber so dürr…
Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen:
Der vermeintliche Wolf war ein relativ dünner Mann, der sich in ein Wolfsfell gehüllt hatte. Erschreckenderweise ausschließlich in ein Wolfsfell.
Fräulein Pfeffer erstarrte wieder. Sie war zwar alt, allerdings war sie stets so beschäftigt gewesen, dass ihr gewisse Erfahrungen, die andere Frauen in bedeutend geringerem Alter machten, fehlten. Dieser Anblick in Kombination mit der merkwürdigen Situation überforderte sie einfach. Überfordert zu sein war für sie eine so neue Erfahrung, dass sie für wenige Sekunden nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte.
Doch da gab der vermeintliche Wolf ein paar annähernd menschliche Laute von sich, die Rotkäppchen mit einigen Worten der Erleichterung kommentierte.
Fräulein Pfeffer schüttelte die Starre ab und beschloss, der Situation nun endgültig auf den Grund zu gehen.
Währenddessen baute sich Rotkäppchen vor ihr auf, streckte den voluminösen Busen weit nach vorne und setzte zu einer Schimpftirade an.
  „Was fällt Ihnen eigentlich ein, Sie altes Weib! Der arme Kai, er kann froh sein, dass er noch am Leben ist! Was ist das überhaupt für ein… “
  „Sei still, du närrisches Ding“, fiel Fräulein Pfeffer ihr mit schneidender Stimme ins Wort.
Rotkäppchen blieb augenblicklich die Luft weg, aber Fräulein Pfeffer war noch lange nicht fertig.
  „Was fällt dir eigentlich ein, derart bekleidet durch den Wald zu laufen! Trägst eine Unterhose, die so klein ist, dass man aus dem Stoffrest, der beim Nähen abfällt, gleich zehn daraus schneidern könnte, und dazu noch auf dem Kopf!
Anstatt den Rock züchtig bis zu den Knöcheln zu tragen, muss ein Mann nur seinen Schuh binden, um… “
Ihr fehlten die Worte, doch die andere Frau war im Gesicht bereits rot wie ein reifer Apfel.
  „Und das Oberteil erst! Man könnte dich ja zu den Milchkühen auf die Weide stellen, ohne dass es jemand bemerken würde, und genau das sollte man mit einem Mädchen wie dir auch tun! In deinem Alter sollte man wissen, wie man sich schicklich anzieht. Dazu läufst du hier mit einem Mann herum, nachts alleine im Wald. Nicht nur, dass ihr wahrscheinlich nicht einmal verheiratet seid, nein, dieser Mann trägt nur ein Wolfsfell, und sonst nichts! Man kann sogar, man sieht sogar… “
An dieser Stelle klappte Fräulein Pfeffers Mund einfach vor Erbostheit zu. Sie presste noch schnell ein
  „Erklär mir, was das hier soll!“ zwischen den Lippen hervor, verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete das Ergebnis ihrer Predigt.
Die gar nicht mehr so junge Frau, wie mittlerweile erkennbar war, wirkte nun tatsächlich wie ein Mädchen, das bei einem schlimmen Vergehen erwischt worden war. Ihr Gesicht glühte, sie schaute betreten zu Boden und spielte mit den Fingern an ihren Zöpfen, ohne es zu bemerken.
Mit schüchterner, leiser Stimme begann sie zu reden, ohne Fräulein Pfeffer dabei in die Augen zu sehen.
  „Wisst Ihr, werte Frau… “
  „Fräulein!“
  „… wertes Fräulein, Kai und ich sind nun schon seit einigen Jahren zusammen und nun ja, wie soll ich sagen?“
  „Ich weiß es nicht.“ [In ihrem Zorn vergaß Fräulein Pfeffer manchmal die Funktionsweise der menschlichen Kommunikation.]
  „Wenn man sich schon so lange kennt… “, Frau Rotkäppchen war so darauf konzentriert, eine neutral formulierte Antwort zu finden, dass sie den Kommentar der älteren Frau nicht einmal registriert hatte.
  „Es ist einfach so, dass man sich zu gut kennt. Keine neuen Herausforderungen mehr, keine… Entdeckungen. Ihr wisst schon, gute Frau.
Das gewisse Feuer brennt nicht mehr und da lässt man sich etwas einfallen, um es wieder anzufachen. Wir sind nicht nur so tief in den Wald gegangen, weil die Atmosphäre besser zu unserem… .unserem Konzept passt, es ging natürlich auch darum, nicht zu vielen anderen Menschen zu begegnen.“
Sie überlegte kurz.
  „Wobei eine gewisse Entdeckungsgefahr die Sache natürlich… Aber was rede ich da. Es tut mir außerordentlich Leid, dass wir Sie in diese Sache mit hereingezogen haben, werte Frau… “
  „FRÄULEIN!“
  „… wertes Fräulein, entschuldigt. Allerdings hoffe ich, dass Sie uns die Belästigung verzeihen können, denn ich bin mir sicher, dass sie unsere Situation verstehen und… ja.“
  „Aber natürlich verstehe ich das“, sagte Fräulein Pfeffer und verstand nicht das Geringste. Wie gesagt, ihr fehlten gewisse Erfahrungen, was sie jedoch nicht als Grund ansah, dies auch zuzugeben.
  „Es ist schon in Ordnung. Wir ziehen einfach weiter unserer Wege und vergessen die ganze Angelegenheit.“
Sie lächelte der Rotkäppchen-Frau aufmunternd zu, deren erwartungsvoller Blick sich in Erleichterung verwandelte. Sie murmelte noch ein Wort des Dankes und verschwand mit ihrem Gefährten, der sich schon vor einiger Zeit wieder den eigenen Füßen anvertraut hatte, aber nicht so dumm gewesen war, sich in das Gespräch einzumischen, irgendwo in der Dunkelheit.
Das zufriedene Lächeln wich nicht von Fräulein Pfeffers Gesicht, selbst als das Paar schon längst verschwunden war.
Sie hatte allen Grund zur Zufriedenheit:
Zwar verstand sie nicht das Geringste von dem, was gerade passiert war, aber eine gestandene Frau hatte sich bei ihr entschuldigt, obwohl sie gerade dem Begleiter eben dieser Frau fast den Schädel eingeschlagen hatte.
Das war an sich schon ein Grund für ein hämisches Schmunzeln, doch viel wichtiger war ein anderer Aspekt der Begegnung.
Sie war ein Zeichen. Kein göttliches oder übernatürliches Zeichen, einfach ein Zeichen, das der gesunde Menschenverstand zu deuten wusste.
Die Leute benahmen sich eindeutig verrückt und das bedeutete, dass sie sich der so genannten Zivilisation näherte.
Und genau die war schließlich ihr Ziel.
Mit neuem Mut schritt Fräulein Pfeffer weiter durch den finsteren Wald.


***



Pablo erwachte.
Eine vertraute Stimme flüsterte sanft in sein Ohr: "Liebling, wach auf! Das Frühstück ist fertig!"
Das klang doch recht überzeugend, also öffnete er widerwillig die Augen. Er erblickte einen alten, dreckigen Poncho, der ein widerwärtig meckerndes Lachen von sich gab.
"Na gut, ich habe ein bisschen übertrieben. Aber Frühstück gibt es wirklich."
 Pablo wurde ein alter, faulig riechender Fleischfetzen unter die Nase gehalten, der ihn augenblicklich würgen ließ.
Sofort ertönte Ponchos meckerndes Lachen erneut.
"Wo sind wir?"
"Guck dich doch mal um. Eine spitzen-Herberge, alles vom Feinsten. Prima Ausblick, ein deftiges Frühstück.
Du hast uns mal wieder in eine paradiesische Situation gebracht, mein Großer. Ich meine, wer will schon ein leckeres, geröstetes Brot mit etwas Wurst oder einem Spiegelei, wenn man auf das ganze schmückende Beiwerk verzichten- und ein deftiges Stück Fleisch haben kann"
Wieder wurde Pablo der vergammelte Fetzen vor die Nase gehalten. Als der Zellhaufen, der gerade dabei war, auf eine alternative Art erneut lebendig zu werden, aus seinem Blickfeld verschwunden war, sah er sich erst einmal gründlich um.
Nicht, dass es viel gebracht hätte.
Die Aussicht war, im Widerspruch zu Ponchos sarkastischer Beschreibung, sehr begrenzt.
Nach wenigen Metern versperrten Felswände, natürlich bedeckt mit dem schleimigen, leuchtenden Zeug, das Pablo immer unsympathischer wurde, die Sicht. An einer Wand lehnten Yeti und Hornleid.
Sie lebten also auch noch. Verschlafen nickte Pablo ihnen zu, doch Hornleid schien ebenfalls zu schlafen. Er reagierte nicht, dafür präsentierte Yeti sein unverwechselbar breites Grinsen, welches das zentnerschwere Ungetüm wie ein durchtriebenes Kind wirken ließ.
Pablos Geist klammerte sich noch mit aller Macht im Reich des Schlafes fest, doch nach und nach löste sich ein metaphorischer Finger nach dem anderen und er stürzte der bitteren Realität entgegen.
So gelang es Pablo, eine Entdeckung zu machen. Hornleid und Yeti lehnten an einer Wand. An einer Wand!
Tatsächlich handelte es sich nicht um einen kleinen Hohlraum im Berg, sondern in einen von Hand gestalteten Raum. Die rechten Winkel taten Pablo nach der so lang scheinenden Zeit in den Höhlen gut und vermittelten ihm ein Gefühl von Sicherheit.
Erstaunlicherweise widerriefen die dicken Eisenstangen, welche die vierte Wand des Raumes ersetzten, diesen Eindruck.
Kurz fragte sich Pablos erwachendes Bewusstsein, wieso das der Fall war, die Eisenstreben wirkten doch sehr solide und standen eng beieinander, so dass eigentlich keine Gefahr hereinkommen konnte. Dann erst bemerkte er die aus einem nicht minder starken Gitter bestehende Tür und das riesige Vorhängeschloss.
Auf der Außenseite.
"Eine Zelle! Wir sind in einer Zelle!", entfuhr es ihm.
Poncho imitierte einen Tusch.
"Yeti, du schuldest mir eine Silbermünze. Ich sagte doch, er braucht mehrere Minuten, bis er es rafft." Yeti grinste.
"Darfst dein Vertrauen niemals in einen Menschen setzen. Hätte mal besser auf meine alte Mutter gehört", scherzte er. "Geb dir die Münze, wenn wir hier raus sind. Hab momentan keine da."
"Ist schon in Ordnung. Der Triumph ist mir Lohn genug. Daran sollte sich so mancher Mensch mal ein Beispiel nehmen."
Pablo war sich sicher, dass Poncho dem Yeti zuzwinkerte. Er zwinkerte! Poncho hatte zwar keine Augen, aber Pablo kannte ihn so lange, dass er so etwas mit Sicherheit feststellen konnte.
Als er wieder das Wort ergriff, klang seine Stimme panischer und höher als sonst.
"Wir sind immer noch in diesem verdammten Berg. Wir sind nicht näher am Ausgang als vorher, sondern wahrscheinlich noch viel tiefer drin. Und wir sind in einer Zelle! Wie könnt ihr da eure dämlichen Scherze machen?", fuhr er sie an.
Aus Yetis Richtung erklang ein leises "Also ich fand sie gut" und Poncho sagte nur: "Das ist es. Die Situation ist be… scheiden genug. Kein Grund, sie durch schlechte Laune zu verderben. Positiv denken. Ich sehe nicht dieses erbärmliche Frühstück… ", unter lautem Schmatzen verschwand der gammlige Fleischfetzen in Ponchos Falten, "… sondern freue mich, denn ich habe eine Silbermünze gewonnen. Negatives Denken führt zu Herzproblemen und ist auch sonst gesundheitsschädlich, sagt man."
"Du hast überhaupt kein Herz, Staubwedel.
Wahrscheinlich wird man uns töten!"
"Könnte passieren. Schau mal, Fleischsack. Da kommt unser Wärter. Vielleicht versucht er, mit dir zu sprechen. Yeti und mich nimmt er merkwürdigerweise nicht als Personen wahr, obwohl wir doch die geistige Elite dieses kleinen Trupps sind. Hornleid hat den armen Kerl vorhin so angeschrien und fast durch die Gitterstäbe erwürgt, dass er ohne ein Wort zu sagen wieder geflüchtet ist. Der Wärter, meine ich. Hornleid musste sich nach dieser lautstarken Anstrengung erst einmal aufs Ohr legen, wer kann es ihm verdenken."
Pablo ignorierte Ponchos Gefasel und richtete seinen Blick durch die Gitterstäbe auf den schmalen Gang, der durch die Zwischenräume erkennbar war.
Ein Wesen näherte sich.
Im Prinzip ähnelte es den Fellmonstern, die für Pablos gewaltige Beule am Kopf verantwortlich waren.
Allerdings wirkte der Wärter wesentlich kultivierter. Sein Fell war nicht lang und zottelig, sondern kurz geschnitten, abgesehen von einer Stelle auf der Oberseite seines kugelförmigen Körpers. Es wirkte fast wie eine menschliche Frisur. Der riesige Mund war nicht geifernd geöffnet, sondern zeigte ein schüchternes Lächeln, was aufgrund der vielen spitzen Zähne jedoch immer noch gefährlich wirkte.
Außerdem trug das Wesen eine Art Toga.
Die Arme wirkten erstaunlich dürr und als das Wesen anfing zu sprechen, klang seine Stimme fast zittrig.
"Hallo, Oberweltler. Mein Name ist Mabo, ich bin der Sohn des obersten Rudelherrn dieser Region. Ich finde es unsinnig, dass ihr verurteilt worden seid und möchte euch helfen. Bist du bereit, vernünftig mit mir zu reden oder wirst du auch wieder anfangen zu schreien, wie es dein Artgenosse tat?"
Auch wenn Mabo einen vergleichsweise freundlichen Eindruck machte, war Pablo nicht besonders gut auf ihn zu sprechen.
"Wenn du uns helfen willst, mach das Schloss auf. Zu was sind wir verurteilt und vor allem, warum überhaupt? Deine Kollegen haben doch uns angegriffen. Dass wir sie getötet haben, war keine böse Absicht. Wir wurden angegriffen und haben uns verteidigt. Wir sind keine Mörder!"
Mabo wirkte erschreckt. "Ihr habt getötet? Wann war das, und warum? Jemand hätte mir davon berichten müssen…
Erzähl mir alles darüber!"
"Na was meinst du denn, wie wir hierher gekommen sind?
Wir waren in einem dieser Gänge unterwegs und wollten nur aus dem Berg fliehen. Da stürmten dutzende deiner Freunde auf uns zu und prügelten so lange auf uns ein, bis wir umfielen. Wir haben uns gewehrt und bestimmt einige von ihnen getötet."
Pablo versuchte, aus diplomatischen Gründen bedauernd zu klingen, letztendlich klang es aber eher nach grimmiger Zufriedenheit.
Mabo gab daraufhin merkwürdige Geräusche von sich, Pablo verstand, dass es ein kicherndes Lachen sein musste. Das Fellwesen wirkte erleichtert.
"Ihr redet von den Drohnen! Diese ungepflegten Bestien sind weniger wert als Tiere. Es sind Werkzeuge, sie gehören nicht zu unserer Art. Dass ihr sie getötet habt, wird euch niemand vorhalten. Niemand wird auch nur daran denken. Mord an Drohnen…"
Wieder ertönte das Kichern.
Pablo verstand diese Wesen einfach nicht.
"Sie sehen genau so aus wie du, nur etwas ungepflegter. Ihr opfert eure Brüder, um ein paar Leute festzunehmen, die euch nichts getan haben?"
"Drohnen sind keine Brüder! Drohnen sehen aus wie wir, doch sie haben keinen Verstand, nicht das geringste bisschen. Sie wären nicht in der Lage, sich selber zu ernähren. Wenn man einer Drohne keinen Befehl gibt, tut sie nichts. Sie würde rumstehen, rumsitzen, sich vielleicht mit anderen Drohnen prügeln, aber sie würde sich keine fünf Meter von dem Platz fortbewegen, wo Ihr sie zurückgelassen habt. Es gibt viel zu viele von ihnen. Man kann nicht vorher wissen, ob aus einem Ei eine Drohne oder ein Bruder schlüpft. Es ist schon eine gute Quote, wenn einem Gelege zehn Drohnen und ein Bruder entspringen. Wir benutzen sie, damit sie uns helfen. So geben wir ihrem Leben wenigstens einen Sinn, es ist besser, als sie einfach alle zu töten.
Denn auch Drohnen brauchen Platz, sie müssen gefüttert werden. Deshalb wurde vor langer Zeit beschlossen, Drohnen nicht als Mitglieder der Familie anzusehen. Jeder kann mit ihnen machen, was er will. Sogar Oberweltler wie ihr."
Pablo begann zu verstehen, worauf Mabo hinaus wollte. So richtig gutheißen konnte er das Verhalten der zivilisierteren Fellmonster nicht, auf der anderen Seite konnte er diese Handlungsweise nachvollziehen.
Außerdem war er nicht hier, um fremden Völkern etwas über Ethik und Moral beizubringen.
"Wenn wir keine Mörder sind, warum sitzen wir dann in dieser Zelle? Was ist unser Verbrechen und was ist unsere Strafe?"
"Das ist leicht", antwortete Mabo nun traurig. "Ihr seid Oberweltler, das ist euer Verbrechen. Eure Strafe wird es sein, in der Arena zu kämpfen. Dies hier ist der Gefangenentrakt in der großen Arena. Ihr werdet einzeln gegen Ukran den Titanen antreten. Doch wie gesagt, ich möchte euch helfen."
Man hörte, wie sich Schritte aus der Ferne näherten.
Mabo zischte noch:
„Ein Wächter kommt. Ich darf hier nicht gesehen werden. Verhaltet euch einfach ganz normal, bis ich wieder komme."
Dann war er auch schon verschwunden.
"Verhaltet euch ganz normal, pah! Sollen wir einfach ganz normal gegen diesen Ukran kämpfen und ganz normal dabei sterben, oder wie stellt dieser Kerl sich das vor?"
Poncho antwortete ihm.
"Er wirkt so jung, findest du nicht? Ich glaube er will uns wirklich helfen. Was er erzählt hat, war sehr interessant und aufschlussreich. Doch ich fürchte, der gute Junge hat noch keine Ahnung, wie er es anstellen soll, dass wir nicht von Ukran niedergemacht werden."
"Das werden wir ja sehen", knurrte der Yeti aus seiner Ecke. Er hatte offensichtlich ebenso gespannt gelauscht wie Poncho.
"Wenn wir Glück haben, kommt er zurück, bevor wir kämpfen müssen. Lasst uns Hornleid wecken und überlegen, wie wir uns am Besten "normal verhalten", ohne getötet zu werden", schlug Poncho vor.
Genau das taten sie dann auch.
In der Besprechung mit Hornleid wurde schnell klar, dass sie nicht viele Alternativen hatten.
So beschlossen sie, ruhig in der Zelle auf Mabos Rückkehr zu warten. Wenn sie kämpfen mussten, würden sie versuchen, das irgendwie zu überleben.
Auf jeden Fall entschieden sie sich gegen Yetis Plan, dem Wärter, der inzwischen vor der Zellentür stand, durch die Gitterstäbe den Kopf abzureißen und anschließend zu improvisieren.
Mabo schien viel mehr Erfolg zu versprechen, als es jeder verrückte Ausbruchsplan gekonnt hätte.
Also verteilten sich alle wieder auf dem Zellenboden und begannen konzentriert, sich zu langweilen. Etwas anderes gab es schließlich nicht zu tun.


***


An dieser Stelle endet die Leseprobe!
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