Pablo
Ein Roman
von
Wolfgang Meilenstein
Vorwort
Guten Tag sehr geehrte Leser und Leserinnen.
Wundern Sie sich auch manchmal selbst darüber, wie unglaublich gebildet Sie
sind?
Das wirkt auf den ersten Blick vielleicht ein bisschen arrogant, aber wenn wir
objektiv an die Sache herangehen, ist es nicht mehr von der Hand zu weisen!
Stellen Sie sich zum Beispiel einmal vor, im siebzehnten Jahrhundert zu leben.
Sie könnten Professor werden, eine Universität gründen und die ganze
Wissenschaft völlig revolutionieren!
Und das allein mit dem, was sich in genau diesem Moment in Ihrem Kopf befindet.
Sie sehen, den Menschen aus der Vergangenheit sind Sie vom Wissen her
tatsächlich überlegen, selbst Newton mit seinem Apfel können Sie nur müde
belächeln, zumindest, bis er ihnen seine gesammelten Werke vorlegt.
Außerdem, so ganz unter uns… Wenn Sie sich mit den Menschen in Ihrer Umgebung
vergleichen, dem Nachbarn, dem Arbeitskollegen… Eigentlich können selbst die
Ihnen nicht annähernd das Wasser reichen. [Höchstens beim gemeinsamen
Abendessen.] Die globale Erwärmung, den Treibhauseffekt und das Ansteigen
des Meeresspiegels können Sie sicherlich perfekt erklären und belegen, [Also
bitte… Jeder weiß, dass es so ist.] wenn jemand die Formel E=mc² erwähnt,
löst das bei Ihnen nur ein wissendes Lächeln aus und natürlich wissen Sie auch
Bescheid über die "Viele-Welten-Theorie", bekanntermaßen leben wir ja
nur in einem kleinen Teil des Multiversums.
Die folgende Information ist für Sie sicherlich ein alter Hut: Wenn irgendwo
etwas geschieht oder jemand eine Entscheidung trifft, spaltet sich unsere
Realität in mehrere Teile.
Wenn Sie beispielsweise eine Münze werfen, leben Sie in dem Universum weiter,
in dem die Münze "Kopf" zeigt, gleichzeitig entsteht aber ein neues
Universum, in dem "Zahl" nach oben zeigt. Dies gilt für alle
Ereignisse auf der Welt, deshalb ist die Anzahl der verschiedenen Universen
gelinde gesagt… hoch, man sagt ja sogar gerne "unendlich".
Überlegungen dieser Art sind zwar ein bisschen gruselig, aber immerhin merken
wir nichts von den anderen Universen und können sie getrost im Alltag
vergessen. Sie schaden nicht, können aber manchmal nützlich sein:
Man kann beispielsweise einen sehr gebildeten Eindruck erwecken, wenn man
darüber redet.
So ist für Sie auch klar, dass es ein Universum gibt, in dem Kennedy noch lebt,
eines, in dem Stauffenbergs Anschlag auf Hitler geglückt ist, eines, in dem das
World Trade Center noch steht usw. Natürlich haben diejenigen, die in diesen
Universen leben, [Was durchaus sogar Sie selbst sein könnten.] ein
bisschen mehr Glück als wir. Möglicherweise wissen Sie sogar, dass das Ganze in
Wirklichkeit so nicht funktioniert. [Falls es überhaupt irgendwie
funktioniert… Es ist ja nur eine Theorie. Da aber jeder darüber Bescheid weiß
und diese "Theorie" als selbstverständlich erachtet, können wir
eigentlich auch ruhigen Gewissens von einer Tatsache sprechen. Oder etwa
nicht?]
Auf jeden Fall ist es eine durchaus amüsante Vorstellung, dass in einer
Parallelwelt das Spermium, aus dem einmal Ihr Großvater werden sollte, kurz vor
der Eizelle von einem bisschen merkwürdiger Strahlung [Vielleicht
wohnte er unter einer Starkstromleitung oder guckte immer durch das Fenster in
der Mikrowelle, um zu sehen, wie sein Essen garte.] getroffen wurde und
deshalb eine Mutation aufwies, die ihren Großvater wie einen Affen aussehen
ließ. Wegen der verflixten Vererbung hätten Sie dann ihre erste Rasur mit drei
Jahren erlebt.
Das ist natürlich von vorne bis hinten ausgemachter Blödsinn, [Wissen Sie
ja.] aber ein nettes Beispiel zur Veranschaulichung.
Worauf ich letztendlich nur hinaus will, ist Folgendes: Es gibt unendlich viele
Universen. Wie ich mir da so sicher sein kann?
Ganz einfach, ich kann sie sehen.
Natürlich könnte ich damit [Genau so wie Sie im siebzehnten Jahrhundert] die
Wissenschaft revolutionieren, den Nobelpreis erhalten und für immer in die
Geschichtsbücher eingehen, aber das möchte ich gar nicht.
Ich habe ganz andere Ziele.
Eines der vielen Universen erscheint mir besonders interessant, deshalb richte
ich meinen Blick darauf und erzähle Ihnen einfach, was dort vor sich geht.
Das ist Ihnen doch sicherlich auch lieber als ein weiterer langweiliger
Nobelpreisträger, dessen Name man schon beim Lesen wieder vergisst.
Zum besseren Verständnis bezeichne ich das Universum, aus dem ich berichte, als
„Universum 3“. Das ist zwar vermutlich wissenschaftlich nicht ganz korrekt,
macht es uns aber einfacher. Wir gehen einfach davon aus, dass wir in Universum
1 leben. Dann gibt es noch Universum 2. Universum 2, das kann ich Ihnen mit
Sicherheit sagen, ist ausgesprochen schrecklich. Vermutlich ist dort
irgendetwas in der Ursuppe schief gelaufen, wahrscheinlich möchten Sie lieber
gar nicht wissen, wie es dort aussieht. Kleiner Hinweis:
Es gibt dort viele Tentakel und Zähne…
Das dritte Universum ist wieder um einiges vernünftiger und zufälligerweise
lohnt es sich, daraus zu erzählen.
Als ordentliche Wissenschaftler können wir natürlich nicht leugnen, dass ich
vorher bereits einen Blick in ein anderes Universum geworfen habe, deshalb
bleibt nichts anderes übrig, als das interessanteste von allen nur als
Universum 3 zu bezeichnen.
Wenn es Ihnen hilft, können Sie es auch einfach Frank nennen.
Roman
Irgendwo.
Eine Welt voller Schwärze.
Dunkelheit fließt umher wie Wasser am Grund des Ozeans. Oder ist es sogar
Wasser?
Eventuell auch eine andere Flüssigkeit?
Menschliche Augen und Gehirne haben Schwierigkeiten, die Umgebung richtig
wahrzunehmen.
Trotz der fast greifbaren Dunkelheit kann man ein wenig sehen.
Alles scheint zu glühen… schwarz.
Man sieht Bewegung in der Ferne.
Schlängelnde Bewegung, große, träge Körper, jedoch merkwürdig elastisch.
Vielleicht ist die Entfernung auch gar nicht so groß und die Körper sind klein
und wendig.
Plötzlich unterbricht ein kleiner Riss die glühende Schwärze. Licht strahlt
hindurch, wird aber nach wenigen Zentimetern [Falls es so etwas hier
überhaupt gibt.] von der flüssigen Dunkelheit… verdaut.
Die Masse voller Bewegungen hält auf den Riss zu.
Ein kleiner Schemen löst sich aus der Menge und rutscht hindurch, er ist zu
schnell, als dass man Einzelheiten erkennen
könnte.
Der Riss erzittert kurz und beginnt, sich zusammenzuziehen.
Die Bewegungen werden schneller, panischer.
Doch das reicht nicht, schon ist der Riss wieder verschwunden.
Es ist wieder stockfinster. Man sollte nichts sehen, tut es aber doch. Es
scheint zumindest so.
Dieser Ort ist nicht gesund, Zeit zu gehen.
***
Wie in allen Kulturen gibt es auch in Universum 3 einen Ort, an dem
die Götter wohnen.
Dieser Ort hat naturgemäß eine lange Geschichte und wurde in vielen Gedichten
und Liedern besungen.
Das Problem: In Universum 3 gibt es eine enorme Vielfalt an Kulturen,
Religionen und damit auch Göttern, oftmals auch innerhalb eines Landes oder
sogar einer einzigen Stadt.
Dies führte zu einer gewaltigen Menge an Differenzen, vom abwertenden Blick bis
hin zum ausgewachsenen Krieg [Wobei es häufig vorkam, dass Ersterer
Letzteren verursachte.] zwischen mindestens zwei Großreichen.
Meistens endeten diese Differenzen so, dass man sich am Ende irgendwie einig
wurde. Ob diese Einigung aus einem Kompromiss bestand, oder einfach daraus,
dass der Gewinner dem Verlierer seine Meinung aufzwängte, spielt ja eigentlich
keine Rolle.
Doch selbst wenn man beispielsweise auf die Idee gekommen war, dass man ja
eigentlich denselben Gott unter einem anderen Namen anbete oder sogar so
fortschrittlich war, ausnahmslos alle Götter und Religionen zu dulden, blieb
noch ein Punkt offen, der weiterhin zu Streitigkeiten führte:
Der Ort, an dem der Gott/die Götter überhaupt lebten.
Zu der Zeit, als sich diese unbedeutende Frage zu einem gewaltigen Konflikt
auszudehnen drohte, beschloss man in ungewöhnlicher Weitsicht und Vernunft,
etwas dagegen zu unternehmen.
Es wurde eine Kommission ins Leben gerufen, jede Religion, jede
Glaubensgemeinschaft durfte einen Abgesandten schicken.
Nach mehreren Tagen konnte man sich endlich auf ein Ergebnis einigen. Man hatte
gemeinsam einen Ort festgelegt, an dem die Götter von nun an offiziell zu
wohnen hatten.
Die bis an die Zähne bewaffnete Öffentlichkeit trat murrend ein paar Schritte
von der jeweiligen Grenze zum Nachbarland
zurück und eine Woche später war die ganze Sache schon wieder so gut wie vergessen.
Doch es gab noch ein Problem.
Die Konferenzteilnehmer hatten an Nichts gespart und ihre wildesten Fantasien
hervorgekramt, um das Heim der Götter zu beschreiben.
Die Grundsubstanz für den göttlichen Wohnraum bestand aus rosa Wolken, die nach
Hähnchen schmeckten…
Und das war erst der Anfang.
Von daher ist es kaum verwunderlich, dass es knapp einen Monat nach der
Konferenz massenhaft Steinplatten regnete. [Und zwar jedem
Konferenzteilnehmer genau auf den Kopf. Bei den Tafeln handelte es sich um jeweils
vier Zentner feinsten Marmors. Die Konferenzteilnehmer konnten von daher bei
der nächsten Abstimmung selbst als Stimmzettel fungieren, auch wenn es sie
vermutlich kaum getröstet hätte.]
Diese hatten an allen Orten auf der Welt die gleiche Inschrift:
„IHR IDIOTEN WIR KONNEN HAHNCHEN UND WOLKEN NICHT MEHR SEHEN IN ECHT
LEBEN WIR IN EINEM SCHONEN GARTEN ABER WO DER IST VERRATEN WIR NICHT
PS ENTSCHULDIGT DIE KURZE NACHRICHT ABER MARMOR IST WIRKLICH TEUER HEUTZUTAGE
DIE GOTTER“
Nachdem einige Leute es nicht lassen konnten, sich über fehlende Punkte und
Kommas aufzuregen, stand nach einigen kurzen Ketzereiprozessen verschiedenster
Art [Jedoch immer mit Todesfolge] der Annullierung des geschlossenen
Vertrages über den Wohnort der Götter nichts mehr im Wege.
Stimmen, die eine Diskussion darüber anregend wollten, wo sich dieser Garten
denn nun eigentlich befände, wurden relativ schnell zum Schweigen gebracht.
Auch wenn Marmor teuer war, eine halbe Tonne Granit konnte ebenfalls recht
wirkungsvoll sein.
Von dieser Zeit an wohnten die Götter also ganz offiziell in ihrem Garten.
Natürlich gab es dort auch Tempel und große Prachtbauten aus Marmor, [Von
einem besonders großen Tempel stand allerdings nur noch das Grundgerüst. Ein
kleiner Hinweis: Einst war er mit ca. 200 Kg schweren Marmorplatten verkleidet
gewesen…] in denen sich die Götter trafen, um sich gegenseitig zu
beleidigen oder das Leben einiger Menschen mit vereinten Kräften so richtig zu
versauen.
Ein relativ junger Gott war Rscht. Er war ein entfernter Neffe von
RSCHT-SCHRUMM, dem Gott der Gischt und wogenden Brandung, doch leider
beschränkte sich Rschts Zuständigkeit auf Kleinstwellen, die gegen einen
dreckigen Hafenkai schwappten.
Rscht spazierte in einer der äußeren Gegenden des Gartens, um allein zu sein.
Er genoss das frische Gras, das seine nackten Füße kitzelte, roch an der ein
oder anderen roten Blüte, die sich ihm vom Wegesrand entgegen reckte und
lauschte dem Zwitschern der Vögel. Er ging, im Gegensatz zu seiner normalen
Haltung [Gesenkter Blick, schlurfend, bloß nicht auffallen] einigermaßen
fröhlich und entspannt, denn die anderen Götter kamen fast nie hierher. Sie
verließen nur ungern die Tempel, denn genau dort trafen die leckeren Opfergaben
[Oder auch „leckeren“ Opfer, wenn es sich um eine eher altmodische Religion
handelte, in denen ältere Männer mit gewissen Schwierigkeiten das Sagen hatten]
ein und konnten direkt gierig in Empfang genommen werden.
Rscht zog sich oft hierher zurück, denn die anderen Götter lachten ihn ständig
aus.
Wegen seiner geringen Macht, wegen seiner kaum vorhandenen Anhänger oder weil
er in der Stadt Vacorta wieder das sanfte Gluckern verschmutzten Wassers bei
der letzten Fuhre Kleinstwellen vergessen hatte. Doch im Garten erinnerte er
sich immer wieder daran, dass er schließlich ein Gott war und damit jedem
Sterblichen überlegen.
Momentan quälten ihn die Minderwertigkeitskomplexe sogar hier, denn einer der
unverschämten Sterblichen hatte es gewagt, einfach seinen kleinen Tempel in
Vacorta planieren zu lassen.
Das schlimmste war ja, dass er nur mit Tränen in den Augen zugesehen hatte.
Wenn er erst einmal an seine Großbuchstaben gekommen war, würde sich das alles
ändern.
Vor RSCHT dem Vernichter würden sie alle zittern, niemand würde es mehr wagen…
Direkt vor Rschts Nase klaffte plötzlich das Universum auf. Er sah für den
Bruchteil einer Sekunde eine unglaublich dunkle Dunkelheit, dann sprang ihm
schon etwas tentakeliges ins Gesicht und glitt durch seine Nasenlöcher tief in
den göttlichen Kopf hinein. Das Gehirn erkannte dank jahrelanger Erfahrung
einen stärkeren Gegner, wenn es einen traf, und verkroch sich so weit wie
möglich ins Rückenmark.
Der Rscht, der wenige Minuten später zielstrebig gen Tempel schritt, war
verändert. Sein Gang war aufrecht und stolz, fast schon arrogant und kurz
nachdem er den größten Tempel betreten hatte, waren alle Augen und sonstigen
göttlichen Sinnesorgane auf ihn gerichtet. [Er hatte kurzerhand die
geopferten Speisen vor die Türöffnung geworfen, somit hatten die Götter
plötzlich sowieso nichts anderes mehr zu tun gehabt, als ihn wütend
anzustarren.] Mit bösartig funkelnden Augen suchte er sich einige
Verbündete und begann eine Hetzrede gegen einen bestimmten Sterblichen, der es
wagte, die Götter herauszufordern. Normalerweise hätte man ihn ausgelacht, aber
dieses Mal…
***
Das Reich Vacorta war ein relativ durchschnittliches Königreich. Es
war relativ groß, relativ wohlhabend und relativ mächtig,
jedoch gab es stets eine unangenehm große Menge anderer Reiche, die ähnliche
Ausmaße hatten und penetrant genug störten, um eine Weltherrschaft der
Vacortaner zu verhindern.
So existierte Vacorta wie alle anderen großen Reiche:
Im Prinzip friedlich, jedoch voller Verachtung für alle kleineren Länder und
voller Verachtung und Misstrauen für alle ähnlich großen Länder.
Seinen Reichtum gewann Vacorta vor allem durch den Handel, das ganze Land war
mittelmäßig fruchtbar und es gab eine ganze Menge mittelmäßig fähiger
Handwerker, dazu kam die exzellente Lage mit einer langen Küstenlinie direkt am
Innenmeer. [Für die Nordseite des Landes, am Außenmeer gelegen,
interessierte sich natürlich niemand.]
Das größte [weil einzige] wirtschaftliche und kulturelle Zentrum war die
Hauptstadt Vacorta mit ihrem großen Handelshafen und ihrer vergleichsweise
guten Straßenanbindung. [Diese führte zu dem bekannten Sprichwort: Wer
denkt, alle Straßen führen nach Vacorta, ist ein Idiot, aber es gibt eine Menge
Straßen die dies wirklich tun“, oft begleitet von Zusätzen wie „Glaub mir mein
Sohn“, „Wie schon mein Großvater immer sagte“ usw.]
Im Zentrum der Stadt stand der riesige Königspalast, der mit seinen hohen
Türmen schon von weit her sichtbar war.
Der Palast wies mehrere Besonderheiten auf:
Zum einen war er innen deutlich kleiner als außen. Die Vacortaner waren ein äußerst
praktisch denkendes und vor allem sparsames Volk. [Immerhin wurde der Palast
durch Steuergelder finanziert.] Sie erkannten zwar an, dass ein Palast in
einer Weltstadt einfach nicht fehlen durfte, konnten sich aber beim besten
Willen nicht vorstellen, wozu ein König zwanzig Schlafzimmer benötigte. Das
ganze galt auch für Badezimmer, Gästezimmer, usw. Als Folge dieses vernünftigen
Denkens waren die Türme und andere große Teile des Palastes von Innen gar nicht
begehbar, die Innenräume beschränkten sich auf die Ausmaße eines mittelgroßen
Wohnhauses.
So diente der Palast nur dem Zweck, Ausländer zu beeindrucken, was er seit
vielen Jahren äußerst zuverlässig tat.
Die zweite Besonderheit war der Eingang des Palastes, es gab nämlich keinen.
Vor ungefähr dreißig Jahren waren die Bürger von Vacorta die Marotten ihres
Königs leid gewesen und hatten kurzerhand den einzigen Eingang zugemauert.
Inoffiziell wusste natürlich jeder über die wahren Hintergründe Bescheid, doch
offiziell ging man von einem dummen Maurer aus, der am falschen Gebäude
gemauert hatte. Da vom König niemals eine Beschwerde kam, [Die einzigen
Fenster des Palastes zeigten in den Innenhof.] konnte man mit gutem Recht
davon ausgehen, dass er mit dieser Baumaßnahme durchaus zufrieden war.
Großzügigerweise schleuderte ein ausrangiertes Katapult aus dem letzten Krieg
einmal wöchentlich eine Ladung Lebensmittel in den Innenhof, niemand sollte dem
Volk von Vacorta unterstellen, es kümmere sich nicht aufrichtig um seinen
König.
Auch für das entstandene Regierungsvakuum fand man schnell eine praktikable
Lösung
Es wurde ein Rat gegründet, bestehend aus allen Adligen der Stadt. Dieser tagte
einmal wöchentlich und entschied über alle wichtigen Belange von Vacorta. Wenn
also nicht irgendjemand ein persönliches Interesse an einer bestimmten Sache
hatte, wurde alles sich selbst überlassen.
Mit dieser Politik hatte man die letzten drei Jahrzehnte ausgesprochen gut
überstanden und sah deshalb keine Notwendigkeit, etwas an der Regelung zu
ändern.
Einer dieser Adligen war Don Raoul. Er war ein gewissenloser Geschäftsmann, der
es durch seine menschenverachtenden Geschäftsmethoden geschafft hatte, sich in
den Adelsrat einzubringen. Dabei war er kein Einzelfall, ungefähr die Hälfte
der Ratsmitglieder entstammte dem so genannten „Geldadel“.
Dank einer alten Regelung, die seit dem „Rückzug des Königs aus dem
öffentlichen Leben“, wie man das Zumauern der Tür nannte, war es jedem
Geschäftsmann möglich, einen Sitz im Adelsrat zu erhalten:
Ab einer gewissen Höhe des Vermögens wurde man, anstatt nur von sich selbst,
auch von den anderen Adligen als einflussreich und bedeutend genug anerkannt,
um die Geschicke der Stadt und des Reiches aktiv mitzugestalten.
Der alte Reichsadel spielte bei den Regierungsgeschäften nur eine untergeordnete
Rolle. Zwar konnte man ihnen ihre Ländereien, den Adelstitel und damit den Sitz
im Rat nicht wegnehmen, jedoch waren die meisten Vertreter des Reichsadels
ihren kapitalistischen Ratskollegen meilenweit unterlegen, was Geschäftssinn,
Intelligenz und Verschlagenheit anging.
Die alten Barone hatten praktisch keinen Einfluss im Rat, sie wurden von den
neureichen Dons ignoriert oder für deren Zwecke benutzt, meistens ohne es zu
bemerken.
Don Raoul hatte seinen Titel schon seit über zehn Jahren und gedachte auch, ihn
weiterhin zu behalten.
Viele Geschäftsmänner und sogar andere Dons, die ihm in die Quere gekommen
waren, lebten nun am Rande der Armut oder meditierten in ihrem Grab über den
Fehler, Don Raoul in die Quere gekommen zu sein.
Manche Leute sagten Don Raoul sogar nach, er wolle der nächste König von
Vacorta werden, allerdings taten sie dies höchstens sehr leise und auch nur im
Kreis ihrer engsten Freunde. [Und das nicht ohne Grund. Es gilt als
gesichert, dass ein alter Mann eine Katze besaß. Das ist soweit nicht gerade
ungewöhnlich, jedoch trug diese Katze den Namen Raoul. Wie Katzen nun mal so
sind, machte auch Raoul alles, nur nicht das, was sein Herrchen von ihm
verlangte. So schimpfte der alte Mann auf einer belebten Straße äußerst laut
und unflätig auf seinen Kater, bezeichnete ihn sogar als räudige Missgeburt.
Am nächsten Tag saß der alte Mann in einer großen Blutlache auf den beiden
Bänken seines kleinen Hauses. Die eine befand sich drinnen am Esstisch, die
andere stand draußen vor der Tür. Inmitten all der abgehackten Körperteile lag
ein Zettel mit der Aufschrift: „ Raoul lässt sich so etwas nicht bieten.“
In den nächsten Wochen wurde viel über diesen Vorfall geredet, allerdings
beschränkte sich das Gerede auf die Gefahr, einen rachsüchtigen Kater zu halten
und die unglaublichen, aber brutalen Fähigkeiten der modernen Hauskatze. Der
Name Raoul wurde nach den Ereignissen nur noch mit äußerster Vorsicht
ausgesprochen.]
Momentan saß Don Raoul jedoch relativ harmlos in seinem Wohnzimmer in einem großen,
purpurroten Ohrensessel.
Er war ein großer, schlanker Mann, wirkte fast schwächlich.
Dieser Eindruck wurde vom stechenden Blick, der sich über eine lange Hakennase
ausbreitete, sofort zunichte gemacht. Gerahmt von einem kleinen Spitzbart und
tadellos pomadisiertem, pechschwarzen Haupthaar wirkte der Don äußerst
gefährlich, man sah ihm seine Macht und Kompromisslosigkeit förmlich an.
Im Kamin knisterte ein großes Feuer, das anstatt Behaglichkeit nur Wärme und
ein paar fliegende Funken in dem großen, gemauerten Raum verbreitete. Die
Wanddekoration beschränkte sich auf diverse Waffen und Schilde, auf denen das
Familienwappen prangte.
Es klopfte.
„Was?“, erklang die
schneidende Stimme des Don.
„Ich bringe Euch Wein, Don.“, hörte man eine Stimme dumpf durch die Tür
antworten.
„Tritt ein.“
Die eisenbeschlagene Tür aus Ebenholz schwang trotz ihres Gewichts ohne das
geringste Geräusch in ihren perfekt geölten Angeln auf und James, [Natürlich
war sein Name nicht James, Butler namens James gibt es nur in Filmen und
Büchern. Doch der Don hatte ganz konkrete Vorstellungen davon, wie seine Welt
aussehen sollte und man tat gut daran, diese Erwartungen zu erfüllen.]
Raouls persönlicher Diener trat ein, ein Glas Wein auf einem Tablett in der
Hand.
„Schlechte Neuigkeiten?“, fragte der Don.
„Allerdings.“ James war es sichtlich unangenehm, dem Don schlechte
Nachrichten überbringen zu müssen, obwohl er keinerlei Strafe zu fürchten
hatte. Der Don war schließlich nicht blöd und gutes Personal ist besonders dann
schwer zu bekommen, wenn der Kopf des unfähigen Vorgängers in der Eingangshalle
aufgespießt ist. Während James sich noch einmal überlegte, wie er dem Don die
Hiobsbotschaft am schonendsten übermitteln konnte, nahm der Don den Wein
entgegen. Er begann zu sprechen:
„Auf der heutigen Ratssitzung war eine Veränderung der Atmosphäre zu
spüren. Es fehlte an Respekt mir gegenüber, teilweise konnte man sogar fast
schon von Spott und Hohn sprechen. Diese drittklassigen Geschäftsmänner und
weichen Neureichen haben sich über mich lustig gemacht, als wäre ich ein Baron
der alten Schule, der in seiner verfallenen Burg sitzt, während die Bewohner
der umliegenden Dörfer seine Grenzsteine immer weiter verschieben, ohne dass er
es merkt. [Dabei handelte es sich durchaus um eine gängige Praxis, um das
Gebiet eines Dorfes oder ein privates Grundstück kostenlos zu vergrößern.
Natürlich durfte man die Steine nicht zu schnell versetzen, aber bis zu fünf
Meter pro Jahr waren bei den kurzsichtigen und weltfremden Adligen durchaus
möglich. Sollte der Baron zufällig einen Ausritt durch seine Ländereien machen,
präsentierte man sich einfach als freundlicher Nachbar. Auf Kommentare wie:
„Ich hätte schwören können, dieser kleine Tümpel gehört eigentlich zu meinem
Grundstück… “ bekundete man offensichtlich sein Mitleid, in solch schweren
Zeiten leben zu müssen und erwähnte die Grenzsteine, die klar besagten, dass
der Tümpel auf DIESER Seite lag und nicht auf JENER. Für die alten Barone waren
Grenzsteine heiliger als Tempel, auf Grenzsteine konnte man sich noch
verlassen, was für Götter nicht galt. Kein richtiger Baron wäre jemals auf die
Idee gekommen, dass man Grenzsteine überhaupt bewegen könne… ] Ich
bin das reichste Mitglied im Rat, auf meinen Wink hin sterben hundert
bedeutungslose Arbeiter, die diese Stadt verschmutzen. Sogar die Götter können
mir nicht das Wasser reichen. Für das letzte Bauprojekt ließ ich drei Tempel
abreißen, und was ist geschehen? Nichts! Weil sie feige und faul sind, diese
Götter. Also, was ist so schlimm, dass du meinst, mich mit einem Glas Wein
darauf vorbereiten zu müssen?“
Der Don hatte sich in Rage geredet und stand nun kerzengerade vor seinem
Sessel, das Weinglas in gebieterischer Pose erhoben.
James machte ein noch unglücklicheres Gesicht, als er begann, zu berichten:
„Ich fürchte, genau da liegt das Problem. Nicht, dass es keine gute
Entscheidung gewesen wäre, niemand zweifelt Eure Entscheidungen an, Don! Aber
es geht um die Sache mit den Tempeln. Anscheinend ist die letzten Wochen nur
nichts passiert, weil sich die drei Götter sich… sich… Sie haben sich beraten,
die Köpfe zusammengesteckt, sich verschworen. Gegen Euch, Don!
Eure Goldreserven haben sich in wertloses Blei verwandelt, eure Schiffsflotte
wurde in einer Art Unwetter vernichtet, nur dass zwei Meter weiter schönstes
Wetter herrschte. Eure Kornreserven und Bauernhöfe wurden von Ungeziefer
heimgesucht… “
Der Butler holte tief Luft.
„Ich muss berichten, dass Ihr praktisch pleite seid, Don.“
Don Raoul wurde schlagartig blass und sank wie ein nasser Waschlappen in seinen
Sessel. Für einen kurzen Moment sah er alt, ungesund und schwach aus.
Doch man wurde nicht zum mächtigsten aller Dons, wenn man nicht über gewisse
Qualitäten verfügte.
Nach einigen Sekunden hatte der Don seinen Schock überwunden. Das Weinglas
zersprang in seiner Hand und ruinierte den sündhaft teuren Teppich, dann hatte
der Don seinen Körper wieder komplett unter Kontrolle, wirkte fast noch
gefährlicher und entschlossener als zuvor.
„Komplett pleite?“, fragte er ruhig.
„Ja. An materiellen Werten ist praktisch nichts mehr geblieben. Eure
Manufakturen gibt es noch, auch die meisten Arbeiter sind noch bei Euch
angestellt, abgesehen von denen, die bei den Vorfällen ums Leben kamen. Aber
Ihr besitzt kein Gold und keine Handelsgüter mehr.“
Der Don überlegte kurz.
„Wie viel wissen die anderen?“
Dies war eine durchaus berechtigte Überlegung. Sollten die anderen
Ratsmitglieder vom Ausmaß der Katastrophe erfahren haben, war Don Raoul
praktisch ruiniert. Ohne Vermögen gab es keinen Sitz im Adelsrat, alle
Angestellten [Von denen die meisten eher Leibeigene waren] würden ihn
sofort verlassen und Raoul könnte ohne Umweg betteln gehen, wobei er sicher
sein konnte, die erste Nacht auf der Straße nicht zu überleben. Wer aus
Verachtung versuchte, aus einer fahrenden Kutsche heraus Bettler mit einer
Armbrust abzuschießen, sollte sich besser nicht alleine in ihre Gesellschaft
begeben.
James setzte sofort zu einer Antwort an:
„Das ist wohl die einzig gute Nachricht. Man hat zwar schon von ein paar
Unglücken gehört, das wahre Ausmaß der Katastrophe ist jedoch noch nicht
bekannt.“
„Gut. Sorge dafür, dass die Sache nicht an die Öffentlichkeit gelangt.
Alle Zeugen sind zum Schweigen zu bringen, wer etwas verrät, wird sich
wünschen, niemals geboren worden zu sein. [Es gibt einfach Sprichwörter, die
immer wieder gerne von bedrohlichen, mächtigen Männern verwendet werden.
Meistens schiebt man die Verantwortung der Hölzernen Holly zu, einer sehr
merkwürdigen Gottheit mit einer Vorliebe für dramatische Reden und Liebespaare
vor Sonnenuntergängen.]
Ich muss wieder zu Vermögen kommen… Und ich habe auch schon eine Idee,
wie.“
Der Don begann nachzudenken.
Letzte Woche hatte er in seiner privaten Bibliothek ein paar sehr interessante
Papiere gefunden. Eigentlich nur Skizzen, dazu ein paar hingekritzelte
Anmerkungen. Aber falls das wirklich klappen sollte… Der Don leitete sämtliche
in seinem Körper vorhandene Energie ins Gehirn.
Nachdem er mehrere Minuten lang komplett ignoriert worden war, verließ der
Butler schulterzuckend den Raum.
Lautlos fiel die Tür ins Schloss.
***
Langsam rumpelte der Holzkarren den Weg entlang. Die zwei Ochsen,
die den Karren zogen, versanken bei jedem Schritt bis zum Knöchel im Morast und
ließen kleine Matschfontänen aufspritzen. Der Regen war so dicht, dass Eike und
sein Partner Grom den dichten Wald, durch den der schlammige Weg führte, kaum
erkennen konnten, obwohl er keine zwei Meter vom Rand des Karrens entfernt war.
Sie waren schon seit Stunden unterwegs und wollten nichts lieber, als endlich
in Vacorta anzukommen. Das lange, ungemütliche Sitzen auf dem holpernden Karren
in Kombination mit dem dichten Regen trug nicht gerade zu einer Verbesserung
der Stimmung bei.
Auch die Geschäftsreise war nicht gerade ein Erfolg gewesen, die kleinen Götterstatuen
aus Holz hatten sich so gut wie gar nicht verkauft. Sie zeigten eine hölzerne
Scheibe Brot, die in Begriff war, auf die Butterseite zu fallen, angebracht mit
einem Metallstab auf einem Holzsockel.
Die Brotscheibe war das Symbol des Gottes Morpo, der sich vor allem in den
unteren Schichten der vacortaschen Bevölkerung zunehmender Beliebtheit
erfreute.
Morpo war der Gott der täglichen kleinen Unglücke. Viele Menschen hielten es
für sinnvoll, vor überraschend aus dem ersten Stock entleerten Nachttöpfen,
plötzlichen Preiserhöhungen beim Händler des Vertrauens oder eben dem
klassischen Brot, das auf die Butterseite fällt, geschützt zu sein.
So verloren die ganz großen Götter wie zum Beispiel Yap mit ihren
Versprechungen von Seelenheil und ewigem Leben nach dem Tod [Gerüchte
sprachen sogar von einer nicht näher konkretisierten Anzahl von Jungfrauen,
jedoch erröteten die Priester stets, wenn man sie darauf ansprach und
stammelten uneindeutige, kurze Antworten.] zunehmend an Attraktivität, denn
die Bürger von Vacorta dachten praktisch: Wenn morgens der Nachttopf eines
anderen über dem eigenen Kopf entleert wird, verliert das Seelenheil
schlagartig an Bedeutung.
„Diese Reise war eine bescheuerte Idee von dir, Eike. Erst diese ewige
Fahrt bis nach Pyros, dann die lange Suche nach einer Stadt. Was ist denn das
für ein Land, das fast nur aus heißem Sand besteht und wo man stundenlang
suchen muss, um auch nur ein kleines Dorf zu finden?“, beschwerte sich Grom,
der von Anfang an gegen die Reise gewesen war.
„Hab ein bisschen mehr Respekt vor den Leuten in Pyros. Lange bevor es
Vacorta überhaupt gab, hatten sie schon eine Schrift entwickelt und wussten von
den Vorzügen eines Toilettenhäuschens. Ich konnte ja auch nicht wissen, dass
dort das Licht und die Sonne als Gott verehrt werden.“, verteidigte sich Eike.
„Verehrt ist ja wohl untertrieben! Man hat uns fast aufgespießt, als sie
herausbekamen, dass wir einen anderen Glauben verbreiten wollten.“
„Ach, sieh doch nicht alles so negativ. Die Ausrede mit den hölzernen
Brotspezialitäten aus Vacorta hat doch funktioniert. Wir haben zwar nichts
verkauft, aber wir sind aus Pyros entkommen und in zwei Stunden sitzen wir
gemütlich vor einem Feuer am Kamin.“
Doch Grom ließ sich seine schlechte Laune nicht so schnell ausreden: „Pah! Ein
riesiges Loch hat das in unsere Finanzen gerissen. Die Reise war teuer, wir
haben kein Geld gemacht und zu Hause stand das Geschäft die ganze Zeit still.
Dämliche Pyroaner. Möge Morpo sie alle strafen! Ein Licht- und Sonnengott, tss.
Wie kommt man überhaupt auf die Idee, eine Qualle zu verehren?“ [Diese
Bemerkung bedarf wohl einer ausführlicheren Erklärung. Nicht nur in unserem
Universum interessiert man sich für das Licht an sich und die Frage, woraus es
besteht. Auch in Universum 3 entwickelte sich ab einem bestimmten Wissensstand
ein Interesse für die Natur und ihre Funktionsweise.
So fand der Alchemist Strahlemann zufällig während eines Versuches, der
natürlich den Zweck hatte, aus Blei Gold zu erzeugen, heraus, dass
Lichtstrahlen keine richtigen Strahlen sind. Sein Interesse war geweckt und
während weiterer Experimente, bei denen ungewöhnlich viele Flamingos (wegen
ihrer Fähigkeit, so lange auf einem Bein zu stehen) den Tod fanden, kam er zu
dem Ergebnis, dass das Licht in kleine
Portionen aufgeteilt durch die Welt flog. Er nannte diese kleinen Portionen
„Brocken“. Ungefähr hundert Jahre später hielt ein anderer Alchemist Herrn
Strahlemann für einen ausgemachten Schwachkopf und überprüfte neben seinen
Blei-Gold Experimenten dessen Theorie.
Er konnte sie nicht widerlegen, machte aber die erstaunliche Entdeckung, dass
Licht anscheinend ähnlich wie Wasserwellen „wabbelt“, wie er es nannte. Die
Bevölkerung stand nun vor der Aufgabe, diese beiden Theorien miteinander in
Einklang zu bringen.
Anstatt jedoch irgendwelche merkwürdigen Quantentheorien und Wellenfunktionen
zu entwickeln, packten sie die Sache mit gesundem Menschenverstand an.
Sie wussten: Licht ist irgendwie transparent und besteht aus wabbeligen
Brocken. Niemand musste lange überlegen, es gab schließlich nur eine logische
Schlussfolgerung: Das Licht ist eine Art Qualle.
Da diese Erklärung so unglaublich einleuchtend war, verbreitete sie sich sehr
schnell in Vacorta und dem umliegenden Land.
Um bloß nicht als dumm und ungebildet zu gelten, wusste kurz darauf jeder
darüber Bescheid.]
So stritten die zwei Händler munter weiter, während die Ochsen sich damit
abmühten, den Karren durch den immer tiefer werdenden Schlamm zu ziehen. Kurze
Zeit später fand die Reise jedoch eine plötzliche Unterbrechung.
Quer über dem schmalen Weg lag ein großer Baum, dem merkwürdigerweise alle
Blätter fehlten, und blockierte die Weiterfahrt.
Eike und Grom sprangen vom Karren, um das Hindernis zu untersuchen.
„Das fehlt mir gerade noch. So ein dämlicher Baum! Guck doch mal, wie
groß und schwer der ist. Den kriegen wir niemals weg. Verdammtes Holzding!“,
machte Grom seinem Ärger Luft. Eike setzte gerade dazu an, seinem Partner
zuzustimmen, als der Baum überraschend zwei große, gelbe Augen öffnete.
Knarrend und krachend richtete er sich auf, wobei einige kleinere Zweige
abbrachen, und begann mit tiefer, grollender Stimme zu sprechen:
„Mir reicht es langsam! Ihr verdammten Menschen!
Guckt es euch an. All meine Blätter sind ausgefallen. Habt ihr den Regen mal
probiert?
Nein? Solltet ihr auch nicht, der ist saurer als eine Zitrone, alles nur wegen
euch. Da will man hier einmal in Ruhe ein Nickerchen machen und schon wird man
angepöbelt und als verdammtes Holzding bezeichnet. Genug ist genug!
Ihr versucht uns zu töten… Doch es klappt auch anders herum!“
Während Grom nur sprachlos da stand und sich über einen sprechenden Baum
wunderte, öffnete Eike bereits den Mund, er wollte den Säuregehalt des Regens
überprüfen.
Dazu kam es nicht mehr.
Als der Baum mit zwei seiner gewaltigen Äste ausholte, wünschten sich Grom und
Eike plötzlich, sich doch für Yap entschieden zu haben. Selbst ohne Jungfrauen
erschien ein Leben nach dem Tod plötzlich äußerst attraktiv. Doch dafür war es
zu spät.
***
Die Hitze flirrte in der weiten Ebene. Der Boden bestand aus
trockener, sandiger Erde, aus der sich erstaunlich viele Pflanzen der Hitze und
dem Wassermangel zum Trotz erhoben.
Verschiedene Gräser, Büsche und Sträucher, Mohnblumen, einige kleinere Bäume
und natürlich Liven dominierten die Szenerie.
So weit das Auge reichte, bis zu den fernen Bergketten, die trotz der enormen
Hitze eine kleine Kappe aus Eis und Schnee trugen, erstreckten sich die
Livenplantagen. In scheinbar endlosen Reihen standen die kleinen Bäume mit
ihrer rissigen Borke, dem knotigem Stamm und den schmalen, ledrigen Blättern.
Bald stand die Ernte an, die Livenkerne waren schon deutlich zu erkennen und
gerade dabei, sich von grün zu schwarz zu färben, erst dann waren sie
erntereif.
Es gab kaum Flächen, die die nicht ordentlich mit Livenbäumen bepflanzt waren.
Mal ein kleiner Tümpel, ein paar morastige Flächen voller Schilf und natürlich
Feldwege, selten sogar etwas, das man mit viel gutem Willen als Straße
bezeichnen konnte.
Jeder, der in dieser Region etwas auf sich hielt, war Livenbauer.
Manche hatten sich auf das wertvolle Öl der Livenkerne spezialisiert, andere
hingegen füllten die Kerne in Gläser, am Ende jedoch landete fast alles in der
Hauptstadt und wurde für unverschämte Mengen an Geld verkauft, von denen die
Livenbauern kaum etwas zu Gesicht bekamen.
Dabei war der Beruf des Livenbauers keine einfache oder ungefährliche Aufgabe.
Seine eigene Existenz durch Landwirtschaft zu finanzieren, ist selten ein
leichtes Unterfangen, doch bei Livenbauern ist die Anzahl an Arbeitsunfällen
außergewöhnlich hoch.
Man vermutet, dass die Livenbäume nicht natürlichen Ursprungs sind, oder
zumindest in irgendeiner Weise magisch manipuliert wurden. Niemand traute der
Natur eine solche Erfindung zu.
Das wichtigste Hilfsmittel für die Ernte war nicht etwa der Korb, in dem die
geernteten Livenkerne gesammelt wurden, sondern ein Objekt, dass einfach nur
„Der Schild“ genannt wurde. Dabei handelte es sich um eine große, möglichst
dicke Platte aus herausgebrochener Livenbaumborke, versehen mit Löchern, durch
die man seine Finger stecken konnte.
Die edlere Variante war aus poliertem, geöltem Livenholz und wies auf der
Rückseite einen kleinen Griff auf.
Mit diesem Schild schützend vor das Gesicht gehoben, näherte man sich bei der
Ernte dem Livenbaum.
Sobald man die nicht einmal aprikosenkerngroße, steinharte Frucht berührte,
explodierte sie. Dabei verschwand irgendwie [Noch niemand konnte es
beobachten, denn es geschieht einfach zu schnell. Da man davon ausging, dass
Kolibris extrem schnelle Vorgänge wahrnehmen können (Niemand war auf die Idee
gekommen, der wahnsinnig schnelle Flügelschlag dieser Vögel könne ohne bewusste
Anstrengung des Denkapparates erfolgen), hatte man versucht, sie darauf zu
trainieren, eine Art Bilderserie von einer Livenkernexplosion anzufertigen. Ich
erspare die Details und sage nur so viel: Es hat nicht geklappt.] das
harte, schwarze Objekt und eine deutlich größere Frucht von weicherer, saftiger
Konsistenz [Trotzdem wurde auch diese weiche Frucht als Livenkern bezeichnet]
erschien. Diese wurde jedoch bei der Explosion willkürlich in irgendeine
Richtung geschleudert, und das mit einer Geschwindigkeit, dass man in der
ersten Sekunde anhand einer blauen fluoreszierenden Spur in der Luft die
Flugroute der Frucht nachvollziehen konnte.
Traf die Frucht den unachtsamen Bauern ins Gesicht, brachen zum Beispiel
Wangenknochen, traf sie das Auge, konnte man dieses danach von der inneren
Rückseite des Schädels abschaben und versuchen, ein auf Papierdicke
gequetschtes Gehirn darunter zu befreien, was aber bisher noch nie gelungen
war.
Auf einem der breiteren Wege, in möglichst großer Entfernung zu den Liven an
beiden Wegrändern, bewegten sich drei skurrile Gestalten mit dem unsicheren
Schritt derjenigen, die nicht genau einschätzen können, welche Gefahr ihnen
droht.
Die erste Person war ein Esel. [Falls Sie jemals auf einen angewiesen waren,
dürften Sie wissen, dass es sich bei einem Esel auf jeden Fall um eine Person
handelt. Viele Esel weisen sogar eine deutlich größere Menge Charakter auf als
der durchschnittliche moderne Mensch, was zugegebenermaßen keine all zu große
Leistung ist.] Der Esel klammerte sich verzweifelt an der Klippe der
„besten Jahre“ fest, um nicht in den Abgrund des Alters zu stürzen. Er war zwar
noch recht fit, aber sturer denn je, auch sein Fell war stellenweise ziemlich
dünn und sah wie von Motten zerfressen aus. Vor allem war der Esel jedoch
schmutzig und von einer dicken Schicht feinen Staubes überzogen. Auch er hatte
schon Erfahrungen mit reifen Livenkernen gemacht.
Hätte er es vermocht, logisch zu denken, wäre er in Anbetracht der großen,
blauen Flecken an entsprechenden Stellen ausgesprochen froh darüber gewesen,
nicht wie ein Mensch ständig sitzen zu müssen.
Dieser Beschuss war etwas gewesen, das dem Esel überhaupt nicht gefallen hatte.
Jetzt bewegte er sich nur noch halb so schnell wie zuvor und legte immer wieder
kleine Pausen ein, um nach links und rechts zu spähen. Die hinterhältigen
Schützen konnten schließlich jederzeit wieder auftauchen.
Auf dem Rücken des Tieres ritt ein nicht weniger schmutziger Mann, den des
Esels übermäßige Vorsicht zur Weißglut trieb.
„Esel! Du hirnloser, haariger Fußabtreter! Es sind Bäume, keine Kinder
mit Steinschleudern! Solange du auf dem verdammten Weg bleibst, kann dir nichts
passieren.
Und jetzt bewegt dich endlich, sonst kannst du heute Nacht unter einem
Livenbaum anstatt in einem Stall schlafen, und ich glaube, das willst du
wirklich nicht!“
Doch der Esel verstand offensichtlich nichts davon oder täuschte dies zumindest
vor, denn er reagierte nicht im Geringsten auf die Worte des Mannes und schlich
ebenso nervös wie vorsichtig weiter voran.
Selbst der dünne Stock in der Hand des Mannes, der, offensichtlich um per
kinetischer Argumentation das Verständnis des Esels zu verbessern, auf dessen
Hinterteil hinab fuhr, bewirkte rein gar nichts. Trotzdem gab der Mann nicht
auf.
Er verfluchte und beschimpfte den ängstlichen Esel ohne Unterlass. Überhaupt
machte der Mann einen etwas merkwürdigen Eindruck. Sein auffälligstes
Bekleidungsstück war ein großer Sombrero, an dem verschiedenste Zähne und
kleinere Knochen hingen, die bei jedem Schritt des Esels ein leises Klackern
und Rappeln erzeugten, wenn sie gegeneinander stießen.
Im kühlenden Schatten des Hutes befand sich ein Gesicht, bei dem nicht klar
erkennbar war, ob der Eigentümer von der Sonne gebräunt oder einfach nur
schmutzig war. Drahtige, mittellange Haare, buschige schwarze Augenbrauen und
ein Bart, der je nach Stelle zwischen drei Tagen und zwei Wochen erfolgreichen
Wachstums schwankte, ließen sowieso nicht viel Haut erblicken. Insgesamt wirkte
das Gesicht sehr ungepflegt. Wären nicht die graublauen Augen, die zwar listig,
jedoch nicht bösartig oder verschlagen drein blickten, gewesen, hätte man den
Mann wahrscheinlich für einen Banditen oder Schlimmeres gehalten.
Der mit einem leichten, aber deutlich erkennbaren Bierbauch ausgestattete
Körper des Mannes wurde fast komplett von einem alten, abgenutzten Poncho
bedeckt, dessen Erscheinung irgendwo zwischen Sonnenblende, Kleidung und
ausrangiertem Teppich einzuordnen war. Den Abschluss des Reiters bildeten
ausgetretene Lederstiefel mit riesigen Sporen aus billigem Blech, die in der
Sonne glänzten. Am linken Fuß bohrte sich langsam aber geduldig ein großer Zeh,
umhüllt von einer vermutlich roten, schmutzigen Wollsocke, seinen Weg in die
Freiheit.
„Jetzt hör endlich auf zu schimpfen, du alter Narr“, sprach plötzlich
eine Stimme, scheinbar aus dem Nichts kommend. „Ich versuche hier zu schlafen,
aber bei deinem Gekeife wird ja jedes Waschweib blass, und ich kriege kein Auge
zu.“
Die zeternde Stimme entsprang offensichtlich dem Poncho des Mannes. Prompt kam
die Antwort:
„Du hast doch seit Jahren kein Waschweib mehr gesehen, du dreckiger
Lumpen. Und Augen besitzt du auch nicht. Wenn ich nicht fluchen soll, muss ich
mir etwas anderes überlegen, um den Esel anzutreiben. Vielleicht würde es
helfen, vor ihm einen Teppich auszubreiten, auf dem er besser laufen kann?
Du würdest dich optimal dazu eignen, Poncho.“
„Ist ja gut, alter Fettklumpen. Ich bin schon ruhig. Alles was ich will,
ist vor Einbruch der Dunkelheit im nächsten Dorf anzukommen und mich einer
unschuldigen Bluse im Gasthof ein wenig anzunähern. Noch eine Nacht hier
draußen, und ich bestehe nur noch aus den matschigen Flecken, die die
Livenkerne hinterlassen.“
„Die Bluse ist danach so dreckig, dass sie keine Frau der Welt mehr
tragen möchte. Wenn du also nicht dafür verantwortlich sein willst, dass man
sie mit angeekeltem Gesicht fort wirft, solltest du deine Fransen von ihr
lassen. Und was die Flecken angeht, glaube ich nicht, dass…“
So setzten die drei skurrilen Gestalten in eitler Zwietracht ihren Weg fort und
erreichten endlich zur gemeinsamen Freude ein kleines Dorf, das plötzlich
hinter einem Hügel, bepflanzt mit Livenbäumen, auftauchte.
Das Dorf bestand aus nicht einmal fünfzehn Häusern einfachster Bauweise. Jeder
Tourist hätte es als ein „pittoreskes“ Dorf, das „typisch für die Gegend“ sei,
bezeichnet. Vermutlich wäre er sogar dem Irrtum erlegen, die Bewohner als
„einfache, gute Menschen“ einzustufen.
Bis auf die zwei größten Häuser des Dorfes aus sonnengebleichtem Holz und
Flussstein waren alle Gebäude einstöckig und weiß getüncht, zumindest in der
Theorie.
Auch praktisch waren sie weiß getüncht, nur war das offensichtlich vor sehr,
sehr langer Zeit geschehen. Vermutlich war das Tünchen von Hauswänden für die
Dorfjugend eines der mysteriösen Dinge, von denen Großväter immer schwärmten,
die aber einfach keinen Sinn ergaben. Dazu gesellten sich noch diverse, undefinierbare
Spritzer und teilweise sogar Einschusslöcher, verursacht von den
allgegenwärtigen Livenkernen.
Als der Mann, der Poncho und der Esel den staubigen Platz in der Mitte des
kleinen Dorfes erreichten, wurden sie bereits von einer Menschenmenge erwartet.
Misstrauisches Gemurmel wurde laut, doch der Mann auf dem Esel warf sich in
Position, als wäre er ein lebendiges Kriegerdenkmal auf einem Schlachtross.
Das Gemurmel wurde lauter.
„Was macht er da? Kann er nichts sehen?“
„Doch, bestimmt. Ich glaube, er streckt sich, weil sein Rücken weh tut.“
„Vielleicht eine fremdländisches Begrüßungsritual?“
Der Mann bemerkte, dass seine Vorstellung nicht ganz die gewünschte Wirkung
erzielte. Deshalb zog er sich schwungvoll den riesigen Sombrero vom Kopf und versuchte
sich an einem gebieterischen Blick.
„Was tut er denn jetzt? Ist ihm warm?“
„Nein, nein. Ich hab‘s. Er will Geld, deshalb hält er den Hut so
merkwürdig!“
„Ja, das muss es sein! Und mit diesem Blick will er den Schuldner dazu
bewegen, vorzutreten. Bestimmt hat der junge Mathrim wieder in einem
Nachbardorf Schulden gemacht.“
Doch als nichts weiter passierte, verstummte die Menge. Nach einer
unbehaglichen Minute absoluter Bewegungslosigkeit auf beiden Seiten wurde sich
der Reiter der Peinlichkeit seiner Situation bewusst.
„Nun… “, räusperte er sich. „Habt ihr so etwas wie einen Bürgermeister?“
Durch den Druck vieler Ellenbogen und Hände wurde ein kleiner Mann nach vorne
katapultiert, obwohl er mit Händen und Füßen versuchte, genau dies zu verhindern.
Er war, wie alle anderen auch, in einfache Baumwolle gekleidet, jedoch deutlich
kleiner als die meisten anderen Männer. Dies schien er mit einem gewaltigen, an
den Seiten herabhängenden Schnauzbart kompensieren zu wollen. Trotzdem wirkte
er äußerst unsicher und man sah ihm an, dass er nichts lieber wollte, als in
den Schutz der Menge zurückzukehren.
„Mein Name ist Samuel und ich bin der Vertreter der örtlichen
Livenkerngruppe, einer freiwilligen Interessengemeinschaft aus… “
Plötzlich verstummte er. Alle Köpfe drehten sich zu einem der beiden großen
Gebäude herum, aus dem jetzt ein weiterer Mann trat. Er trug einen Zylinder und
war auch sonst deutlich feiner gekleidet als all die Livenbauern auf dem Platz.
Seine Haut war blass, sie wirkte wie Wachs und seine blassen Augen fixierten
den Neuankömmling mit einem misstrauischen Blick. Seine Ausdrucksweise war
gepflegt, fast vornehm, doch seine Stimme klang schneidend und befehlsgewohnt,
als er sich direkt vor den zurückscheuenden Esel stellte und fragte:
„Wer bist du? Was hast du hier zu suchen?“
Da der Esel nichts erwiderte, bleib es an dem Reiter hängen, eine Antwort zu
geben. Das war genau das, worauf er gewartet hatte.
„Mein Name ist Pablo Paolo Pérez“, verkündete er stolz und warf einen
erwartungsvollen Blick in die Runde.
Die Dorfbewohner starrten ihn mit großen Augen an.
Aus einer der hinteren Reihen hörte man ein „Na immerhin!“.
Als Pablo klar wurde, dass man ihn nicht kannte, stieß er ein gequältes Seufzen
aus, um allen klarzumachen, was für ungebildete Landeier sie doch seien, bevor
er weiter redete:
„Es wundert mich, dass ihr noch nicht von mir gehört habt! Ich bin
meines Zeichens patentierter Monsterjäger, und zwar einer der besten, wenn
nicht gar der beste, möchte ich in aller Bescheidenheit sagen. Ratten und
Heuschrecken sind für mich eben so wenig ein Problem wie Drachen, Nilifanten
oder wilde Oger.“ Er senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern.
„Sogar Integrale habe ich schon erfolgreich getötet.
Zwei ausgewachsene Exemplare auf einen Streich! Könnt ihr euch das vorstellen?“
In der Menge flüsterte man bewundernd, nachdem man sich darauf geeinigt hatte,
ob der komische Mann nun „Integrale“ oder „Exemplare“ erledigt hatte. Nachdem
der örtliche Klugscheißer einige dezente Hinweise gegeben hatte, erfolgte die
Reaktion des Volkes.
„Integrale! Nicht zu fassen!“
„Ach du meine Güte… Sogar Integrale!“
„Und gleich zwei… Was für ein tollkühner Kerl.“
Man gab sich eben jede erdenkliche Mühe, so bewundernd wie möglich zu klingen.
Von Integralen hatte zwar noch nie jemand im Dorf gehört, aber hier bot sich
gerade die optimale Gelegenheit, so zu tun, als kenne man sich aus. So etwas
konnte man sich einfach nicht entgehen lassen.
„Waren es die schwarzen geschuppten oder die hellgrauen mit den
Tentakeln?“, fragte ein älterer Mann, der sich Mühe gab, möglichst routiniert
zu klingen.
Pablo blinzelte einmal kurz verunsichert, bevor er mit tönender Stimme
verkündete: „Von jeder Sorte eines! Es war also besonders schwer. Ihr wisst
schon, warum… “
Die Menge nickte zustimmend.
Mit einem hinterhältigen Blick ergriff der blasse Mann, der bei Pablos
Ausführungen keine Miene verzogen hatte, wieder das Wort.
„Ach, wie unhöflich von mir. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt“,
sagte er süffisant.
„Mein Name ist Bonor, ich bin der Bürgermeister dieses pittoresken
Dorfes. Wir sind einfache, gute Menschen und können Euch wahrscheinlich nicht
viel bieten, großer Jäger.
Doch seid Ihr herzlich eingeladen, eine Nacht in unserer Schänke zu verbringen.
Falls wir Eure Dienste benötigen, kommen wir gerne auf Euch zurück.“
Trotz der untertänigen Worte lächelte der Bürgermeister überlegen und
verschwand sofort wieder in dem großen Gebäude, welches eine Art Rathaus sein
musste.
Pablo winkte großzügig ab, stieg von dem dreckigen Esel und begab sich, umringt
von mehreren neugierigen Livenbauern, in die Schänke. Den restlichen Abend
verbrachte er damit, auf Kosten anderer Leute Bier zu trinken und spannende
Geschichten aus seinem Leben als Monsterjäger zu erzählen, in denen er wie
zufällig immer als der einzige aufrechte Mensch in einer finsteren Welt voller
Ungeheuer und verschlagener Personen erschien. Erst weit nach Mitternacht
verabschiedete er sich großspurig und zog sich auf eines der kleinen, nicht
besonders sauberen Zimmer zurück.
Er legte den zerfledderten Poncho ab, trieb mit dem Geruch seiner Füße
sämtliches Ungeziefer aus dem kleinen Bett und warf sich anschließend
genüsslich darauf, was das Bett mit einem bedrohlichen Knacken kommentierte. Es
bestand aus Livenholz.
***
Einige Meilen nordwestlich der Stadt befand sich ein großes, fast
ebenes Gebiet, das allgemein als Fautegé-Wüste bezeichnet wurde. Man hatte
schon immer Probleme mit der Kategorisierung und Benennung dieser Gegend gehabt,
[Die wahre Bedeutung des Namens ist mittlerweile in der Bevölkerung verloren
gegangen. Wenn sich jemand dafür interessieren würde, könnte er mit Hilfe
einiger alter Aufzeichnungen Folgendes herausfinden: Fautegé leitet sich von
den drei Buchstaben VTG ab, die in diesem Fall für „Verdammt Trockene Gegend“
stehen.
Auch früher wusste man nicht so recht, wie man das Gebiet bezeichnen sollte. Im
Verlauf der Geschichte ging das Wissen um diese Abkürzung verloren und es
schlich sich ein Accent ein. Deshalb schob man den merkwürdigen Namen allgemein
den Bewohnern des Nachbarlandes in die Schuhe, da deren verdächtig häufige
Verwendung von Accents schon immer große Missbilligung hervorgerufen hatte.
(Was weniger an den Accents lag, sondern vielmehr an den Bewohnern)
Wieso man dort eine völlig unwichtige Gegend in Vacorta benennen sollte, fragte
niemand.] denn es war nicht einmal eine richtige Wüste. Über mehrere
Quadratmeilen erstreckte sich praktisch nur trockenes, hohes Gras, an dem man
sich ständig schnitt, wenn man nicht aufpasste. Es gab keinen einzigen Baum,
nicht einmal einen Strauch, dafür aber hin und wieder größere Sandflächen, die
eine Vorliebe dafür hatten, dem unvorsichtigen Reisenden ihre Beschaffenheit
als Treibsand zu enthüllen. [Leider kam der Treibsand nie so recht in das
Vergnügen, die Überraschung seiner Opfer zu spüren, sie sagten oft nur noch
„Mmgmpf“, bevor sie vollends versanken, und dabei gab sich der Sand so viel
Mühe.
Hätte man den Sand befragt, was der nächste sinnvolle Schritt in der Evolution
des Menschen sein könnte, hätte die Antwort sicherlich gelautet: „Ein Mund, der
auch sprechen kann, wenn er voller Sand ist.“]
Da es aber keine andere Wüste in Vacorta gab, verlieh man der Gegend
widerwillig diesen Titel, schließlich musste man auf sein Image achten.
Trotzdem war es den Bewohnern der Randregionen der Fautegé-Wüste nie gelungen,
allgemein als „Wildes Wüstenvolk“ akzeptiert zu werden, wofür sie sich einige
Jahre lang mit Herz und Seele eingesetzt hatten.
[Man nannte sie viel mehr „Trottel“, was man mit der Wahl ihres Wohnortes
begründete.] Durch die scheinbar endlosen Ebenen aus im Wind wogenden
Grashalmen führte eine halbwegs sichere Straße. Sie war weder gepflastert noch
sonst irgendwie befestigt, aber es gab Pflöcke, die den sicheren Weg markierten.
Das System funktionierte ganz einfach: Wo die Pflöcke nicht im Treibsand
versunken waren, konnte man einigermaßen sicher entlanggehen.
Am Ende dieser Straße [Eventuell auch am Anfang, es ist im Nachhinein immer
schwer festzustellen, wo man mit dem Bau begonnen hat.] erhob sich ein
riesiger Brocken aus pechschwarzem, porösem Fels.
Auf diesem Felsen wiederum befinden sich die weiß getünchten, aber ziemlich
dreckigen Mauern eines Klosters. Wozu in dieser Gegend drei Meter hohe Mauern
nötig waren, wusste niemand so richtig. Angeblich waren sie dazu da, um den
Sand abzuhalten, aber seit wann störte sich Sand an Glasscherben auf der
Mauerkrone?
Sobald diese Mauern einmal überwunden waren, umschmeichelten Rasenflächen,
kleine Gärten und gepflegte, kleine Gebäude das „wüsten“geplagte Auge.
In einem dieser kleinen Gärten, die durch Mäuerchen verschiedener Höhe
abgetrennt waren und ein ziemlich verwirrendes Labyrinth bildeten, [Manche
der Gärten waren nach den Novizen benannt, die auf ihrer langen Suche nach dem
Ausgang in diesem Garten verdurstet waren.] waren nun ein kleiner Holztisch
und zwei relativ unbequem aussehende Stühle aufgestellt. Der Tisch war mit
kühlen Getränken und kleinen Süßspeisen gedeckt, auf den Stühlen saßen Don
Raoul und der Prior des Klosters.
Sie schienen, abgeschirmt durch die in diesem Gärtchen mehr als mannshohen
Mauern, eine entspannte Konversation zu führen.
Zwar konnte eine Konversation mit dem Don nie wirklich entspannt sein, doch der
Prior hatte die Kunst entwickelt, nur in den Bereichen zu schwitzen, die von
seiner braunen Robe aus grobem Stoff verdeckt waren. Dies tat er dafür umso
intensiver.
„Was ist eigentlich der Grund Eures Besuches, Don?“
Der Prior hatte sich endlich überwunden und die Frage gestellt, die ihn schon
seit dem überraschenden Eintreffen des Don auf der Zunge brannte.
„Ihr wollt doch nicht etwa über Euer Finanzkonzept reden, oder?“,
versicherte sich der Prior. Dass der Don dem Kloster seine großzügigen Spenden
verwehren könne, war die größte Sorge des Priors.
„Oh nein, keinesfalls. Ich wollte nur um einen kleinen Gefallen bitten.
Obwohl, eigentlich handelt es sich eher um ein Angebot, das für beide Seiten
von Vorteil sein wird.“
Beim Prior schrillten sämtliche Alarmglocken. Der Don bat nie um etwas, und
wenn er zusätzlich noch derart deutlich damit herausrückte, für seine
jahrelangen Spenden nun endlich eine Gegenleistung erhalten zu wollen, konnte
das nichts Gutes bedeuten. Doch er hatte keine Wahl.
„Es erfüllt uns natürlich mit Freude, Don, dass wir Euch auch einmal
etwas Gutes tun können.“
Während er diese Worte sprach, bildeten sich auf der fast spiegelglatten Glatze
trotz jahrelanger Übung winzige Schweißperlen.
„Was genau ist es denn, das wir für Euch tun können?“
Der Don begann zu sprechen, und als er nach vielen Minuten seine Ausführungen
beendet hatte, war der Holztisch auf der Seite des Priors dunkel von
herabgetropftem Schweiß.
„Aber Don! Versteht doch… Das geht einfach nicht, ich kann nicht! Wir
sind alle Brüder, Männer der Forschung. Ich kann niemandem vorschreiben, womit
er seine Zeit verbringen soll“, startete der Prior einen letzten Versuch, sich
aus dem Vorschlag des Don irgendwie herauszuwinden. Natürlich entsprachen seine
Worte nicht ganz der Wahrheit. Er war zwar als Prior theoretisch nur der „Erste
unter Gleichen“, praktisch war er aber weit mehr der Erste als gleich. In der
Realität war der Prior für alle Angehörigen des Klosters eine übergeordnete
Autorität, trotzdem machte er von seiner Macht nur äußerst selten und
zurückhaltend Gebrauch.
Der Don verlangte, jedes einzelne Mitglied des Klosters an nur einem einzigen,
gemeinsamen Projekt arbeiten zu lassen!
Das war eigentlich undenkbar, man war ja schließlich Wissenschaftler. Diese
Aussage mag auf den ersten Blick verwirrend erscheinen, da in unserer Welt
Mönche eher wenig mit Wissenschaft zu tun haben. Wirft man aber einen genaueren
Blick auf das System der Klöster in Vacorta, macht es durchaus Sinn.
Der wichtigste Aspekt für alle Mönche, mit dem sich vor allem Eroberer oder
Touristen [Wobei die Trennlinie nur sehr dünn und oft verschwommen ist.] nur
schwer anfreunden konnten, war, dass kein Kloster in Vacorta einem Gott geweiht
war.
Es war auch nicht mehreren Göttern geweiht, denn mit Göttern hatte man
praktisch nichts am Hut, höchstens zu Forschungszwecken oder privat, aber auch
das war sehr selten.
In den Klöstern, die an mehreren unzugänglichen Orten in Vacorta aufzufinden
waren, [Der größte Teil der Bevölkerung ging davon aus, dass dies diverse
mysteriöse Gründe hatte. Unsichtbare Strömungen in der Natur, der spezielle
Geist in von Menschen verlassenen Gegenden, das Gefühl der Unendlichkeit, das
die Barrieren des menschlichen Denkens öffnet usw. Man wusste es nicht wirklich
und dachte sich irgend einen Mist aus, den man für „esoteerisch“ hielt, wobei
auch hier niemand so genau erklären konnte, was das Leben als Mönch mit einem
heißen Getränk zu tun hatte. Die wahren Gründe für die Abgelegenheit waren viel
einfacher: Zuallererst wollten die Mönche einfach ihre Ruhe haben. Das ging nun
mal umso besser, je weiter man von der nächsten Ortschaft entfernt war.
Auch gab es in der Vergangenheit oft Probleme mit der Nachbarschaft, zum
Beispiel wenn mal wieder etwas explodiert war oder sich ein schleimiges Wesen,
dessen Kopf in einem Glaskolben feststeckte, in der zum Trocknen aufgehängten
Wäsche der Nachbarin verfangen hatte.] widmete man sich praktisch nur der
Erforschung der Welt, vor allem der Magie.
Um Mönch zu werden, musste man gelernt haben, die Magie zu beherrschen, dazu
war ein zumindest in jungen Jahren ausgeprägtes Interesse am Universum [Bzw.
am Multiversum, wie Sie ja wissen] und seiner Funktionsweise eine weitere
Voraussetzung. Auch ein mangelhaftes oder aus diversen Gründen unterdrücktes
Interesse am anderen Geschlecht war nicht gerade von Nachteil, wenn man sein
Leben am Ende der Welt nur unter Männern verbringen wollte.
Aber es gab ja die gute alte Verdrängung.
Nahm man die Abgeschiedenheit, die Einsamkeit und alle anderen Nachteile in
Kauf und hatte die Aufnahmeprüfung zum Mönch erst einmal bestanden, war das
Leben eigentlich gar nicht so schlecht.
Die meisten Klöster wurden zwar finanziell gefördert, jedoch praktisch nie
kontrolliert. So konnte jeder Mönch seinen Forschungen und Experimenten
nachgehen, wie und auf welchem Gebiet er wollte. Zwang kannte man in den
Klöstern kaum, Zusammenarbeit erfolgte höchstens freiwillig und deshalb eher
selten. Für einen Haufen undisziplinierter, egoistischer Individualisten, wie
es die Mönche waren, kam eine erzwungene Zusammenarbeit an einer einzigen
Aufgabe einfach nicht in Frage.
Nicht einmal im Traum würde ein Mönch an ein solches Ereignis denken und genau
deshalb wusste der Prior, welche Schwierigkeiten ihm diese Angelegenheit trotz
seiner fast uneingeschränkten Macht im Kloster bereiten würde.
Doch der Don zeigte sich unerbittlich:
„Ach, lassen wir doch diese leidige Angelegenheit und reden erst einmal
über etwas anderes. Wie steht es eigentlich um die Finanzen des Klosters?“
Der Prior hatte nicht damit gerechnet, dass Raoul so offensichtlich damit
drohen würde, seine Spenden an das Kloster einzustellen. Seine „Bitte“ musste
wohl von äußerster Wichtigkeit für ihn sein. So sehr den Prior der Verlust
einer seiner größten Einnahmequellen schmerzte, was der Don verlangte, war ein
Ding der Unmöglichkeit.
„Wir schreiben trotz der schlechten Zeiten schwarze Zahlen. Die Spender
sind momentan so großzügig, dass wir fast auf einen verzichten könnten.“ Der
Prior gab ein Lachen von sich, dass den letzten Satz als Scherz kennzeichnen
sollte, obwohl beide wussten, dass es keiner war.
Raoul verzog trotz seiner Überraschung keine Miene.
„Das freut mich zu hören, Prior. Das liegt vermutlich an Eurem
außergewöhnlichen Finanzkonzept, das Ihr verfolgt?“
Wenn dieser sture Mönch sich derart sträubte, musste Raoul eben richtig Druck
machen.
„Von welchem Finanzkonzept redet Ihr? Unser Finanzierungsplan hat sich
prinzipiell seit Jahren nicht geändert, ich verstehe nicht ganz.“
Bei diesen Worten fühlte sich der Prior wie eine Maus, die in das aufgerissene
Maul einer Schlange spaziert, da sie es aufgrund der Größe der Schlange für
eine Höhle hält.
Die Nackenhaare sträuben sich auch bei Mäusen oft erst dann, wenn es bereits zu
spät ist.
„Genau das ist ja das Problem. Es gibt da nämlich etwas, das ich nicht
ganz verstehe, wenn ihr so nett wärt, es mir zu erklären?“
Der Don wartete erst gar nicht auf eine Antwort, sondern sprach mit ruhiger,
freundlicher Stimme, die seine Worte Lügen strafte, weiter.
„Meines geringen Wissensstandes nach finanzieren sich sie Klöster über
Spenden. Diese sind teilweise privat, doch zu einem großen Teil auch staatlich.
Soweit ich weiß, gehen mit diesen Spenden auch gewisse Verpflichtungen einher.
Natürlich seid ihr auf sie angewiesen, schließlich habt Ihr keine Einnahmen und
müsst trotzdem immer neue Novizen ausbilden und verpflegen.
Durch die Spenden wird es jedem, der Talent und Interesse hat, ermöglicht, ein
Kloster zu besuchen. Dies ist eine der Bedingungen, dachte ich zumindest.
Vermutlich bin ich nicht mehr auf dem neuesten Stand, was diese Klausel angeht.
Wie sonst soll ich mir erklären, dass die Novizen in Eurem Kloster gewaltige
Mengen Geld ausgeben, um hier aufgenommen zu werden? Dass es dabei um eine
bewusste Bevorzugung handelt, schließe ich aus, das wäre äußerst unehrenwert
und dem Ruf Eurer Institution nicht angemessen. Aber seid doch so gütig und
informiert mich darüber, wann die Regel für die Chancengleichheit unter den
Bewerbern aufgehoben wurde oder wozu das Geld der Eltern der Novizen sonst
dient. Ich möchte zwar nicht selber ein Kloster leiten, doch auch ich kenne
mich ein wenig in finanziellen Angelegenheiten aus und wüsste zu gerne, wo mein
Denkfehler liegt.“
Nach diesem Vortrag stand dem Prior der Mund offen. Sollte diese Angelegenheit
an die Öffentlichkeit geraten, wäre er praktisch ruiniert. Die Klosterleitung
wäre auf immer verloren, vielleicht würde das Kloster sogar geschlossen. Und
die mächtigen, reichen Eltern der Novizen, die ihren Kindern einen Platz im
Kloster erkauft hatten, würden dafür sorgen, dass er für den Rest seines Lebens
ein mittelloser, wenn nicht sogar ein toter Mann bliebe.
So sehr es ihm auch widerstrebte, er musste sich fügen.
„Um was genau ging es nochmal in Eurer Bitte, Don?“
„Nun, ich habe in einem meiner Archive durchaus interessante Baupläne
gefunden. Sie sind allerdings nur sehr grob und stellenweise auch etwas
merkwürdig. Ich möchte, dass Eure Mönche diese Probleme beheben und den Bau
leiten. Ich habe einige meiner fähigsten Ingenieure mitgebracht, die Euch den
größten Teil der Arbeit abnehmen sollten. Jedoch gibt es gewisse Probleme mit
Magie, bei denen meine Ingenieure Hilfe benötigen…“
Don Raoul redete und erklärte genau, was er brauchte. Der Prior hörte nur zu
und begann in Gedanken bereits damit, unlösbare Probleme zu lösen.
Was blieb ihm auch anderes übrig?
***
Am nächsten Morgen klopfte es laut und selbstbewusst an die Tür von
Pablos Zimmer. Er schreckte aus tiefstem Schlaf hoch, denn freiwillig stand er
niemals vor der Mittagsstunde auf. Nach einigen Sekunden fiel ihm ein, wo er
sich befand. Er setzte ein erwartungsvolles Grinsen auf, fuhr sich mit der Hand
einmal durchs Gesicht, [Er nannte dies seine „morgendliche Wäsche“.] trat
mit voller Absicht auf Poncho, der auf dem Fußboden geschlafen hatte und sagte
betont fröhlich:
„Los du alter Bettvorleger, wach auf. Hier gibt es ein paar Landeier
übers Ohr zu hauen.“
Widerwillig kroch Poncho an Pablos Bein hinauf und legte sich über dessen
Schultern.
Doch als Pablo die Tür mit einem selbstbewussten Lächeln öffnete, das den Anschein
erwecken sollte, als sei er schon seit Stunden wach und gerade mit seinem
morgendlichen Fitnesstraining fertig geworden, wartete dort kein einfacher
Livenbauer, sondern Bonor selbst.
Seine Haut war wieder blass und stand damit im krassen Gegensatz zu dem schönen
Wetter, das in dieser Region fast das ganze Jahr über herrschte. Fast wirkte er
sogar ein bisschen krank.
Doch die Augen blickten direkt in Pablos Gesicht und signalisierten, dass ihr
Inhaber genauestens über Pablo und seine Gedanken Bescheid wisse.
Als er jedoch zu sprechen begann, klang seine Stimme wieder ruhig, höflich und
fast demütig:
„Guten Morgen, Herr Pablo Paolo. Der Stadtrat hat getagt und sich
entschlossen, die Anwesenheit Eurer außergewöhnlichen Persönlichkeit zu nutzen.
Wenn Ihr also Zeit habt, einen kleinen Auftrag anzunehmen… “
„Aber natürlich, Meister Bonor. Worum geht es denn? Eine Rattenplage
oder doch ein Ungetüm? Nicht, dass eine dieser Möglichkeiten ein Problem für
mich darstellen würde!“
Irgendwo unter Pablos Ohr grummelte es leise: „Angeberischer Lügner“, doch er
ließ sich nicht beirren.
„Am besten, ich zeige Euch das Problem vor Ort“, schlug der
Bürgermeister vor.
„Wenn Ihr mir bitte folgen würdet… “
Die Bitte klang mehr wie ein Befehl.
Pablo witterte immer noch die Chance, einem kleinen Bauerndorf seine hart
erarbeiteten Ersparnisse für eine groß aufgeblasene Kleinigkeit abnehmen zu
können. Er folgte dem Bürgermeister, wobei er versuchte, möglichst elegant und
lässig zu laufen.
Als sie das Gebäude verließen, traf die Hitze Pablo wie ein Schlag. Obwohl es,
zumindest für seine Begriffe, früher Morgen war, brannte die Sonne
erbarmungslos vom Himmel, auf den staubigen Plätzen zwischen den Häusern war
kein Mensch zu sehen. Im Schatten schliefen einige Hunde.
Bonor lief ohne ein weiteres Wort los. Es wirkte, als würde er schlendern, doch
Pablo hatte große Mühe, das Tempo zu halten, ohne seinen eleganten Schritt
aufgeben zu müssen.
Sie überquerten den Dorfplatz und nahmen Kurs auf eine Livenplantage.
Als Bonor schließlich anfing, sich zwischen den dicht beieinander stehenden
Bäumen hindurchzuzwängen, musste Pablo sich sehr zusammenreißen, um seine Angst
nicht zu zeigen.
Es bereitete ihm große Mühe, keinen falschen Ast zu berühren und somit einen
wahren Hagel an gefährlichen Geschossen auszulösen. Dazu musste er sich
weiterhin bemühen, elegant zu laufen, auch wenn Bonor sich noch nicht ein Mal
nach hinten umgedreht hatte.
„Meine Güte, du wirst uns noch umbringen, wenn du so weiter
machst. Du läufst wie eine Frau, die sich nachts im Hafen ein paar Münzen
dazuverdienen will. Hör endlich auf mit den Hüften zu wackeln und sieh zu, dass
wir hier ohne größere Löcher hindurch kommen!“, kritisierte der inzwischen
vollständig erwachte Poncho leise.
„Es handelt sich hierbei um etwas, dass dir komplett fehlt, nämlich
Eleganz. Von daher will ich es dir nicht übel nehmen, dass du sie nicht auf den
ersten Blick erkannt hast. Man muss immer den Schein wahren, ich verliere hier
sofort jeden Respekt, wenn ich auch herum stapfe wie ein Bauer.“
„Du hast hier nicht das geringste bisschen Respekt!
Diese dämlichen Bauern bewundern dich vielleicht wegen deiner Geschichten, von
der keine einzige wahr ist.
Aber dieser Kerl hier vor uns, dieser Bonor…
Der durchschaut dich, und das weißt du.
Ich sage dir, der führt irgendetwas im Schilde.
Hier ist kein Mensch, alles ist voller gefährlicher Livenbäume und er scheint
sich gar nicht mehr um uns zu scheren.
Lass uns abhauen, der Kerl ist mir unheimlich.“
Auch Pablo war inzwischen sehr unsicher geworden, ob es wirklich die richtige
Entscheidung gewesen war, dem wortkargen Mann zu folgen. Doch da Poncho es
zuerst erwähnt hatte, musste er aus Prinzip widersprechen, auch wenn ihm selbst
die Knie zitterten.
„Jetzt stell dich nicht so an, du fleckige Markise. Was will dieser
blasse Schreibtischtäter schon gegen uns ausrichten. Monster findet man nun mal
nicht auf dem Dorfplatz, sondern in der Wildnis. Und jetzt halt endlich die
Klappe, ich muss mich auf den Weg konzentrieren.“
„Hoffen wir mal, dass es sich nicht wirklich um ein Monster handelt“,
brummte Poncho noch einmal, dann verstummte auch er. Tatsächlich war Bonor
ihnen schon ein gutes Stück voraus und Pablo musste vorerst seine ganze
Konzentration einsetzen, um wieder zu seinem Führer aufzuschließen.
Den vermeintlich eleganten Gang hatte er aufgegeben.
Die Wanderung dauerte noch fast eine Stunde.
Eine Stunde, voll von Hitze, unebenem Boden, der nur darauf zu warten schien,
einem Wanderer den Knöchel zu brechen und natürlich Livenbäumen, immer schussbereit.
Doch irgendwann stolperte Pablo einen letzten Schritt vorwärts und der
Livenhain lag plötzlich hinter ihm.
Schweißgebadet hob er den Kopf und sah eine von kleinen Sträuchern und Gräsern
bewachsene Fläche, an deren Ende sich eine zerklüftete Felswand erhob.
„Sind wir da?“, richtete er die Worte an Bonor und schaffte es gerade
noch, sich ein „endlich“ zu verkneifen.
Einige Meter vor sich sah er ungefähr ein Dutzend Bauern, so nahm er seine
letzten Energien zusammen, um wieder selbstbewusst und gebieterisch zu wirken.
Bonor drehte sich zum ersten Mal um, er schien fast zu lächeln, als er sagte:
„Ja, sind wir. Da vorne ist es, wenn Ihr mir bitte folgen würdet.“
Pablo antwortete nicht, er setzte sich mit großen Schritten in Bewegung, als
hätte die schwierige Wanderung nicht einmal ausgereicht, um seine Muskeln warm
werden zu lassen.
Als er sich der Felswand näherte, sah er, dass sich eine Öffnung darin befand.
Es war nicht der Eingang zu einer normalen Höhle, das sah er sofort.
Ein großer, gezackter Riss führte vom Boden aus bis in fünf Meter Höhe und
bildete so einen Spalt, den drei Männer nebeneinander bequem betreten konnten.
An den Rändern des Spalts schienen Felsstücke herausgebrochen zu sein. Pablo
sah sich auf dem Platz um, entdeckte einige weit verstreute Felsbrocken und kam
zu dem Schluss, dass sie wohl eher hinaus gesprengt worden waren, wenn er die
Entfernung zur Felsspalte betrachtete. Das mulmige Gefühl schien inzwischen mit
einer Spitzhacke seine Magenwand zu bearbeiten, um irgendwie seine
Aufmerksamkeit zu erregen.
Dann standen Bonor und er auch schon direkt davor. Pablo versuchte, möglichst
desinteressiert zu wirken, während er sich Mühe gab, die undurchdringliche
Finsternis in der Felsspalte mit Blicken zu zerteilen. Er hatte keine Chance.
„Um was für eine Art Ungeziefer handelt es sich hierbei eigentlich?“,
fragte er beiläufig, als sei es zwar interessant, aber keinesfalls relevant.
„Wenn wir das so genau wüssten, Mann.“
Einer der Bauern war neben Pablo getreten und hatte geantwortet, bevor Bonor
den Mund öffnen konnte. Der schien kurzzeitig irritiert, ließ den
grobschlächtigen Livenbauern aber gewähren.
„Das Biest selbst haben wir noch nie wirklich gesehen. Nur ein paar
Betrunkene haben die wildesten Sachen zusammenfantasiert, aber das kann nicht
stimmen. Die einzigen Tatsachen, die wir haben, sind die Spuren der Verwüstung,
die es hinterlässt.“ Der Mann verzog das Gesicht.
„Drei Leichen, auf unterschiedliche Weise verstümmelt und zerfetzt, dazu
noch ein ganzer Haufen Livenbäume, die ausgerissen und zerschlagen wurden.
Vielleicht waren es Integrale, aber wir wissen es nicht genau.“
Pablo fand es immer wieder erstaunlich, wie schnell sich Pseudowissen
verbreitete.
„Ich sehe mir die Sache einmal aus der Nähe an“, versprach er.
In Gedanken schmiedete er bereits Pläne, wie er sich möglichst unbeschadet aus
der Sache herauswinden könne.
Doch die Hoffnung auf Gewinn hatte er noch nicht ganz
aufgegeben.
Und so bewegte er sich mit selbstsicheren, aber sehr langsamen Schritten auf den
finsteren Spalt in der Felswand zu.
Drinnen umschloss ihn fast völlige Dunkelheit.
Seine Augen waren noch an das grelle Tageslicht gewöhnt, er war praktisch
blind.
Trotzdem lief er weiter.
Mit jedem Schritt schien es deutlich kälter zu werden, dazu kam noch ein
Gefühl, als würden unsichtbare, viel zu große Augen jeden von Pablos Schritten
beobachten.
„Verdammt, Großer. Diese Höhle ist unheimlich. Drei zerfetzte Leichen
und ein Vieh, das unbeschadet Livenbäume ausreißt?“
Poncho hatte sich zu Wort gemeldet.
„Wenn ich selbst Beine hätte, wäre ich schon zwanzig Meilen weit weg von
hier. Hier ist nichts zu holen, Pablo, also lass uns abhauen. Ich will meine
Fransen nicht für ein bisschen Silber von Hinterwäldlern riskieren.“
Pablos Nerven waren aufgrund der bedrohlichen Höhle schon bis zum Zerreißen
gespannt, trotzdem fand er noch irgendwo eine weitere Alarmsirene, die in
seinem Kopf anspringen konnte.
Poncho hatte ihn beim Namen genannt. Das tat er nur selten. Sehr, sehr selten.
Das hieß, es war ihm wirklich ernst. Poncho musste die drohende Gefahr
ebenfalls spüren und wollte offensichtlich nichts anderes, als auf direktem
Wege zu verschwinden.
Diese Aufforderung seines langjährigen Gefährten gab den Ausschlag. Hastig
machte Pablo auf dem Absatz kehrt und rannte auf den schmalen Streifen Licht
zu, der den Ausgang markierte.
Einige Meter davor bremste er ab, strich Haare und Kleidung glatt und
überlegte, welcher lockere Spruch wohl angebracht wäre, um für eine Gelegenheit
zur Flucht zu sorgen.
Doch er kam gar nicht mehr dazu, seinen Spruch anzuwenden.
Kurz bevor Pablo zurück ins grelle Tageslicht treten konnte, rannte er gegen
eine Wand.
Es war nicht im eigentlichen Sinne eine Wand, aber drei äußerst kräftige
Livenbauern mit verschränkten Armen vor der Brust verursachen einen ähnlichen
Effekt.
Pablo versuchte immer noch, seine Benommenheit los zu werden, als Bonor mit
selbstsicherem Schritt zwischen den Bauern hervortrat und anfing zu sprechen,
bevor Pablo sich irgendeine Ausrede einfallen lassen konnte.
„Ich mache es kurz, Meister Pablo. Ja, es stimmt. Die Einwohner dieses
Dorfes sind größtenteils nicht gerade die hellsten und schnell zu beeindrucken,
aber sie besitzen einen Vorteil: Sie kennen ihre Schwächen. [Und das ist
wirklich eine erstaunliche Leistung! Es gibt verschiedene Abstufungen von
Intelligenz, die fließend in Dummheit übergehen. Trotzdem kann ein
intelligenter Mensch auch dumm sein. Sie merken schon, das ist ein
kompliziertes Thema, aber wir wollen versuchen, es einfach zu halten. Das
Problem bei den meisten dummen Leuten ist, dass sie sich für schlau halten.
Dummheit an sich ist im Prinzip unproblematisch, aber nur wenn man sie erkennt
und sich dementsprechend verhält. Ein nahezu legendäres (und vollkommen
unbekanntes) Experiment führte zu diesem Thema ein Mönch namens Vrederikh
Erdreter durch. Da seine ganze Familie unter einer starken Rechtschreibschwäche
litt, wurde er oft für dumm gehalten.
Er kam als erster auf die Idee, dass Dummheit unproblematisch ist, sofern man
sie rechtzeitig erkennt. Dazu reiste er mit einer Wagenladung Weidenkörbe im
Sommer nach Vacorta und behauptete, es seien Schränke, die Lebensmittel vor dem
Verderben schützten. Die Schränke seien magischer Natur und erhitzten die
Lebensmittel auf über 40° C, eine zur Konservierung angeblich optimale
Temperatur. Obwohl das Thermometer im Sommer sowieso selten geringere Werte
anzeigte, gingen die nicht im geringsten magischen Körbe innerhalb weniger
Tage zu einem völlig überhöhten Preis weg. Zwar tauschte Erdreter das
verdiente Geld (Natürlich über ein paar gewisse Zwischenstationen, die hier
nicht näher beschrieben werden sollen) gegen eine gewaltige Sammlung von
Geschlechtskrankheiten ein, kehrte aber wenigstens an Wissen reicher in sein
Kloster zurück.
Seine Verkaufsstrategie war einfach. Er präsentierte die Weidenkörbe voller
Inbrunst, erklärte dann aber scheinbar verzweifelt, er wisse nicht mehr, wie
sie funktionierten. Natürlich erkannten einige Leute den Betrug. Andere
wiederum gaben zu, dass sie es auch nicht wüssten und an einem Kauf deshalb
nicht interessiert seien.
Doch die meisten Leute waren dumm. In ihrer vermeintlichen Schlauheit fühlten
sie sich V. Erdreter haushoch überlegen und dachten sich selbst die
verrücktesten Theorien aus, warum der Korb funktionieren könnte. Schließlich
hatten sie sich selbst überzeugt und kauften einen einfachen Weidenkorb für das
hundertfache des normalen Preises, um Lebensmittel darin schneller verderben zu
lassen.]
Deshalb übertrugen sie mir die Leitung über das Dorf, in der Gewissheit, dass
sie zwar nicht jede meiner Entscheidungen nachvollziehen können, aber ich
letztendlich trotzdem die richtige Entscheidung treffen würde. Und ich, Meister
Pablo, habe Euch von Anfang an durchschaut. Ihr seid ein armseliger Faulpelz,
denkt, Ihr könntet ein paar Landeier um ihr hart erarbeitetes Geld erleichtern,
indem Ihr ein paar Heuschrecken erschlagt. Wir sind keine grausamen Menschen,
deshalb geben wir Euch eine Chance. Eure Aufgabe ist es nach wie vor, das
Monster zu suchen und zu beseitigen. Sollte Euch dies gelingen, erhaltet Ihr
natürlich Euren Lohn und könnt unser Dorf ohne Schaden verlassen. Wenn Ihr
allerdings denkt, euch irgendwie aus dieser Angelegenheit herauswinden zu
können, liegt Ihr falsch. Wenn Euch diese Bauern noch ein weiteres Mal erblicken,
werden Sie Euch wirklich töten. Die wahrscheinlichste Möglichkeit von allen ist
natürlich, dass ihr in den Höhlen vom Monster getötet werdet. Aber eine geringe
Chance ist besser als keine, also dreht Euch um und geht Eurer Arbeit nach. Es
ist nicht notwendig, dass Ihr noch etwas sagt.“
Pablo wäre auch gar nichts mehr eingefallen.
Also drehte er sich um und wankte mit unsicheren Schritten in die Dunkelheit
zurück. In sicherer Entfernung zu den muskulösen Bauern setzte er sich erst
einmal auf den kalten Steinboden und begann, seine Gedanken zu sortieren.
„Kannst du nicht endlich mal ruhig sein?“, fuhr er Poncho nach einigen
Minuten an.
Dieser hatte, sobald sie außer Hörweite der Bauern waren, damit begonnen, ohne
Unterlass „Scheißescheißescheißescheiße… “ vor sich hin zu murmeln.
Pablos Rüffel schien ihn aus einer Trance zu erwecken.
„Was? Achso, ja, entschuldige. Aber wenn es dir verdammt noch mal
möglich wäre, nachzudenken, wären wir erst gar nicht in diese Situation
gekommen! Wer hat gesagt, dass wir abhauen sollten? Ich! Aber nein, die
organische Intelligenz hält sich mal wieder für besser als die, ähhh,
stoffliche. Du bist dumm wie ein Tier, aber dir fehlen die Instinkte. Ihr
Menschen seid doch alle gleich.“
„Ok, du hast ja Recht.“, gab Pablo widerwillig zu.
„Jetzt sitzen wir hier aber gemeinsam in der Scheiße, also hilf mir
dabei, einen Ausweg für uns zu finden!“
„Pff, für uns! Für MICH habe ich schon einen Ausweg gefunden. Ich tue
das, was ich schon längst hätte tun sollen. Ich mache mich vom Acker, löse mich
von deinem schlechten Einfluss.
Ich warte ein paar Stunden, dann krieche ich aus der Höhle heraus. Einen Poncho
werden sie nicht einmal bemerken.“
„Oh doch, das werden sie. Diese Bauern leben in einer Gegend, in denen
ihnen sogar die Bäume an den Kragen wollen. Der Inhalt dieser Höhle ist um
einiges schlimmer. Du weißt vielleicht, dass ein normaler Poncho, nicht zu
Unrecht, gar nicht kriechen kann! Die werden dich für das Monster oder etwas
Ähnliches halten und dich ohne Zögern ins Lagerfeuer werfen.
Dann ist alles, was von dir übrig bleibt, stinkender Qualm. Also verhalte dich
nicht so dämlich, und hilf mir.“
„Es passiert zwar sehr selten, aber diesmal hast du wirklich Recht“, gab
Poncho schließlich klein bei.
„Wir beide wissen, dass wir nur eine Möglichkeit haben. Vielleicht
finden wir ja einen anderen Ausgang aus dieser Höhle, bevor das Monster uns
findet. Also los, wir müssen ja nicht warten, bis das Vieh kontrolliert, was
sich da in sein Reich begeben hat. Je früher wir aufbrechen, desto schneller
sind wir draußen.“
„Stimmt. Wäre doch gelacht, wenn diese Höhle nicht noch einen Ausgang
hätte. Wahrscheinlich müssen wir nur ein paar hundert Meter weit laufen.“
Doch es gelang Pablo nicht recht, mit seinen Worten Zuversicht zu verbreiten.
Seine zittrige Stimme trug dazu ebenso viel bei wie das Gefühl der Kälte und
der beobachtenden Augen, dass die beiden Gefangenen auf ihrer Haut [bzw.
ihrem Stoff] spürten. Trotzdem rückte Pablo sein sprechendes Kleidungsstück
in eine bequeme Position, löste den längsten der unzähligen Zähne, die an
seinem Hut befestigt waren, packte ihn wie einen Dolch und schritt in die
Dunkelheit hinein.
***
„Du verdammtes Mistvieh!“, fluchte Fräulein Pfeffer und ließ ihren Krückstock
aus solidem Gusseisen ein weiteres Mal auf den Schädel der Kreatur krachen.
„Der“ Schädel ist dabei nicht ganz zutreffend, denn die Kreatur hatte
gleich vier davon. Sie ähnelte im Prinzip einem Wolf, war allerdings ein gutes
Stück größer und besaß an Stelle eines Kopfes, wie es sich für ein
wohlerzogenes Säugetier gehört, noch drei weitere. Diese waren zwar nicht mit
Augen ausgestattet, dafür war das Maul mit den spitzen Zähnen umso größer.
Der Kopf, den Fräulein Pfeffer traf, war der mit Augen.
Von daher war es nicht weiter verwunderlich, dass die Kreatur ein gequältes
Jaulen hervorbrachte und schließlich zusammenbrach.
Mit einem zufriedenem Lächeln wischte Fräulein Pfeffer ihren Krückstock am Fell
des Ungeheuers ab, dann rief sie laut: „Ihr könnt wieder herauskommen!“
Wie ein Ameisenvolk aus einem Hügel, nachdem man aus Versehen in ihn
hineingetreten war, kamen nun von überall die anderen Bewohner des Dorfes
heran. Aus Kellerräumen, Schränken, unter Betten, sogar aus Misthaufen und dem
Gemüsegarten von Witwe Holznagel krochen sie hervor.
Während die Leute leise Ausreden vor sich hin murmelten, warum sie nicht bei
der Verteidigung des Dorfes helfen konnten, schüttelte Fräulein Pfeffer nur den
Kopf. Manchmal traf sie die Dummheit der Dorfbewohner wie ein Schlag.
Da gab es zum Beispiel Ralph, den Neffen der Bürgermeisters. Er hatte sich auf
den Boden gekniet und seinen Kopf vor lauter Angst in das feuchte Erdreich
gesteckt, dabei konnte kein Ungeheuer so dumm sein, Ralphs gewaltiges
Hinterteil mit einer Karotte zu verwechseln.
Auch die Ausreden der Leute stellte die Geduld der resoluten Dame auf eine
harte Probe. Zwanzig gebrochene Arme und eine ebenfalls erstaunlich hohe Anzahl
von überraschend aufgetretener Blindheit hielt sie einfach nur für lächerlich.
Schließlich hatte sich das gesamte Dorf [Eigentlich eine unsinnige Aussage.
Das Dorf konnte sich schließlich nicht bewegen. Wenn also ein Monster seinen
Mittelpunkt erwählte, um von Fräulein Pfeffer verstorben zu werden, was blieb
dem Dorf schon anderes übrig, als sich um den Kadaver herum zu gruppieren?] um
die Leiche der Bestie versammelt.
Das Dorf war eine kleine Ansammlung von Holzhäusern am nördlichen Rand des
Reiches Vacorta. Nicht einmal hundertfünfzig Menschen, von denen ein Großteil
auf eine Art und Weise miteinander verwandt war, die rein biologisch eigentlich
unmöglich sein sollte, verbrachten dort ihr Leben.
Keiner der Bewohner hatte großartigen Reichtum angehäuft, sie alle verdienten
ihren Unterhalt mit der Tierhaltung und dem Anbau von Kartoffeln, Weizen und
natürlich Knoblauch.
Der Knoblauch war das einzige, das dieses kleine Dorf ohne Namen zu etwas
Besonderem machte.
Nicht nur, dass ein von Fremden als „penetrant“ beschriebener Knoblauchduft die
Nase verwöhnte, sobald man sich auf einige Kilometer dem Dorf näherte, nein,
das Dorf besaß ein wohl gehütetes Geheimnis. Alle Nachbardörfer beneideten es
um dieses Geheimnis, denn es versprach Ruhm, Erfolg und zumindest ein kleines,
aber zuverlässiges Einkommen.
Das Dorf war im Besitz des Rezeptes für die beste Knoblauchmayonaise der
bekannten Welt. In Kombination mit dem einzigartigen Knoblauch der Region war
es, nach einer kurzen Eingewöhnungsphase, für so manch einen Adligen zu einem
festen Bestandteil des Abendessens [Und nach noch längerer
Eingewöhnungsphase erst des Mittagessens und schließlich sogar des Frühstücks]
geworden. Doch seit einiger Zeit litt das Dorf unter einer Plage. Merkwürdige
Ungeheuer kamen aus dem Wald und stürzten sich auf Mensch und Knoblauch, bis
sie [Meistens von Fräulein Pfeffer] umgebracht werden konnten.
„Es ist schon das zweite Ungeheuer in dieser Woche!“, rief eine
Dorfbewohnerin empört. Zustimmendes Gemurmel ertönte.
Während sich die Leute immer mehr ereiferten, wartete Fräulein Pfeffer noch
einige Sekunden auf ein Wort des Dankes, ging dann aber kopfschüttelnd in ihre
Hütte zurück. Es war nicht so, dass sie die Dorfbewohner nicht leiden konnte.
Im Gegenteil, sie kannte fast jeden schon seit seiner Kindheit, mochte jeden
trotz seiner Schwächen und wollte nirgendwo anders leben als im Dorf. Doch
Fräulein Pfeffer legte viel Wert auf Anstand und Sittlichkeit [Warum sonst
sollte eine 75-jährige Frau mit solcher Vehemenz auf der Bezeichnung „Fräulein“
bestehen? ] und ein Wort des Dankes wäre nun wirklich nicht zu viel
verlangt gewesen, nachdem sie wieder einmal im Alleingang alle gerettet hatte.
Sie betrachtete sich im großen Spiegel in der Küche, der so sauber poliert war,
dass er das Licht nicht nur reflektierte, sondern dabei noch verstärkte. Wer
mit einer Lampe in der Hand vor diesen Spiegel trat, lief Gefahr, sofort zu
erblinden.
Sie sah eine Frau, die gut fünfzehn Jahre jünger wirkte, als sie war. Das graue
Haar war zu einem ordentlichen Dutt gebunden und zwei blaue Augen, mit denen
man vermutlich Glas schneiden konnte, strapazierten die Belastbarkeit des
Spiegels.
Der strenge Eindruck wurde jedoch von dem gütigen Gesicht voller Lachfalten [Sie
bestand darauf, dass es ausschließlich Lachfalten seien, und niemand hatte sich
bisher getraut, das Gegenteil zu behaupten.] abgemildert.
Bekleidet war sie, wie immer, mit einem schlichten Kleid aus grober Wolle,
unter dem sie heimlich feste Lederhosen trug. Aber das brauchte ja niemand zu
wissen.
Zufrieden sah sie, dass der Kampf mit dem Ungeheuer keinerlei Spuren auf ihrer
Kleidung hinterlassen hatte. Nach einem Kampf mit Blut, Dreck und Speichel
besudelt zu sein, war nach Fräulein Pfeffers Ansicht etwas für männliche
Helden, die sowieso immer schmutzig waren und stanken. Doch für eine Dame ihres
Alters geziemte es sich einfach nicht, also ließ sie sich gar nicht erst darauf
ein. Sie seufzte, als ihr Blick auf das Bett in der kleinen Schlafkammer neben
der Küche fiel.
Es war ja nicht so, dass sie sich selbst als unzufrieden angesehen hätte. Doch
in letzter Zeit… war sie irgendwie genervt. Natürlich lag es an Margarethe,
aber mit ihr kam sie schließlich schon seit längerer Zeit halbwegs gut klar.
Der eigentliche Grund waren wohl die Monster, die seit einiger Zeit immer und
immer wieder das Dorf angriffen. Fräulein Pfeffer sehnte sich nach ein wenig
Ruhe, einem bisschen weniger Verantwortung, die auf ihren Schultern lastete.
„Hallööööchen!“, erklang es von der Tür her.
„Hallo Margarethe.“
Niemand sonst konnte ein solches „Hallööööchen“ von sich geben, abgesehen von
Margarethe.
„Würdest du dich bitte noch einmal um dein Bett kümmern? Die Matratze
gehört nicht in den Bettbezug hinein und das Laken dient auch nicht dazu, die
Decke zu einem festen Ball zu verschnüren. Du musst die Dinger vertauschen,
Mädchen.“
„Ach soooo… .“, stöhnte Margarethe theatralisch. „Halten Sie mich nicht
für dumm, Frau… “
„FRÄULEIN!“
„… Fräulein Pfeffer. Ich hab beim Beziehen sofort gemerkt, dass etwas
nicht stimmt.“ In Margarethes Stimme klang Stolz mit. Es war auch nicht so,
dass Fräulein Pfeffer Margarethe für dumm gehalten hätte. Sie wusste mit
Sicherheit, dass sie es war.
Vor ungefähr einem Jahr hatte die alte Frau Senfkorn aus dem Nachbardorf
Fräulein Pfeffer gebeten, ihre Enkelin Margarethe als Hausmädchen einzustellen.
Fräulein Pfeffer hatte zu diesem Zeitpunkt nicht darüber nachgedacht, warum ein
zwanzigjähriges, blondes Mädchen von umwerfender Schönheit nicht in der Lage
war, eine Arbeit zu finden. Außerdem wurde sie wirklich langsam alt und ein
wenig Hilfe im Haushalt schien ihr gar keine schlechte Idee zu sein, also hatte
sie zugesagt. Doch schon am ersten Arbeitstag war sie sich ganz sicher gewesen,
dass Margarethe mehr Arbeit verursachen würde, als dass sie eine Hilfe war.
Das Mädchen war eigentlich sogar relativ geschickt, doch was sie in den Händen Und
an anderen Körperteilen, welche die Männer im Dorf immer wieder dazu
veranlassten, auf unnatürliche und vermeintlich unauffällige Weise zu schielen,
wenn Margarethe vorbeispazierte] hatte, fehlte ihr im Gehirn.
So hatte Fräulein Pfeffer an jenem schönen Sommertag, als die Kühe fröhlich
muhten und das Gras grüner erschien als je zuvor, bemerkt, dass ihre Küche nach
den Vorbereitungen für das Dorffest außerordentlich dreckig war.
Während sie sich um den Abwasch kümmerte, wies sie Margarethe an, die Herde zu
schrubben. Diese eilte auch sofort in die Besenkammer, um die nötigen
Utensilien zu besorgen. Beruhigt vertiefte sich Fräulein Pfeffer wieder in die
Arbeit, die ein Berg verkrusteter Töpfe mit sich brachte. Als sie mit den
Gedanken wieder zurückgekehrt war, hatte sie mit Abstand die saubersten Kühe
der Stadt. Nur die Herde in der Küche waren genau so dreckig wie zuvor.
Leider brachte es auch nicht das Geringste, Margarethe eine Standpauke zu
halten, wenn diese sich keiner Schuld bewusst war. Damals hatte sie fest darauf
beharrt, dass sie den Auftrag bekommen hatte, „die Herde“ zu waschen.
Und da dies auch der Wahrheit entsprach, hatte sie keinen Grund gesehen,
ausgeschimpft zu werden.
Fräulein Pfeffer hatte der Versuchung widerstanden, dem Mädchen an den Kopf zu
werfen, dass kein halbwegs intelligenter Mensch auf die Idee käme, eine Herde
Kühe zu waschen, vor allem nicht, wenn man gerade in der Küche beschäftigt sei,
doch sie unterließ es aus Rücksicht auf Margarethes labile Gefühlswelt und
versuchte sich darüber zu freuen, dass das Mädchen wenigstens zu grundlegender
Logik fähig schien.
Diese Geschichte war allerdings schon lange her und inzwischen hatte Fräulein
Pfeffer gelernt, wie man sich am besten ausdrückte, wenn man mit jemandem
sprach, der wahrscheinlich von einem Schimpansen im Schach geschlagen werden
konnte.
„Oh nein!“, erschallte plötzlich ein lauter Schrei von draußen und riss
Fräulein Pfeffer aus ihren Gedanken.
Es war Margarethes Stimme. Innerhalb weniger Sekunden befand sich Fräulein
Pfeffer mit hoch erhobenem Krückstock vor der Tür und spähte hektisch nach
allen Seiten.
Es war kein Ungeheuer zu sehen. Sie entspannte sich.
„Was ist los, Margarethe?“, fragte sie resigniert.
„Schauen Sie doch mal, Fräulein Pfeffer! Sie haben diese tollen Blümchen
auf die falsche Seite der Bettdecke gestickt! Sie sind innen! All die ganze
Arbeit… “
Ehrliche Trauer klang in Margarethes Stimme mit. [Falls Sie sich wundern,
warum Margarethe sich plötzlich außerhalb des Hauses aufhält, obwohl sie gerade
noch in ihrem Schlafgemach stand, gibt es dafür eine einfache Erklärung. Das
Beziehen eines Bettes ist eine Tätigkeit, die relativ viel Platz benötigt.
Nicht, dass Fräulein Pfeffers Behausung diesen Platz nicht geboten hätte, doch
für Margarethe galten andere Maßstäbe als für normale Menschen. Jemand, der
sich nicht vorstellen kann, dass außerhalb seines Blickfeldes noch weiterer
Raum existiert (bzw. eben nicht), sollte auf keinen Fall in der Nähe
zerbrechlicher Gegenstände ein Bett beziehen. Nachdem Margarethe mehrmals
vergleichsweise teure Vasen von den Regalen und Töpfe sowie Bilder von der Wand
geschleudert hatte, wurde es Fräulein Pfeffer zu viel. Von nun an verbot sie
ihrer Haushaltshilfe, Betten innerhalb geschlossener Räume zu beziehen.] Trotzdem
löste es irgendetwas aus in Fräulein Pfeffers Gehirn.
Eine weitere Flocke fiel auf den gewaltigen Schneehaufen, der in dieser
Metapher ihre Genervtheit repräsentiert. Dieses Mal jedoch waren die Pflöcke
des Anstands und die Netze der Verantwortung nicht mehr in der Lage, die
Schneemassen aufzuhalten.
Ohne ein Wort zu sagen, stülpte sie Margarethes Bettbezug auf die richtige
Seite, betrat das Haus, wo sie einige Lebensmittel, vor allem „Pfräulein
Pfeffers ekstra starke Knoblauchmajonäse“ einpackte, verließ das Haus wieder
und ging auf den nahen Wald zu. Dabei kam sie an den anderen Dorfbewohnern
vorbei, die erfolglos versuchten, den Kadaver des erlegten Ungeheuers zu
entsorgen, ohne ihn dabei mit mehr als den Fingerspitzen zu berühren. Als
Fräulein Pfeffer entschlossen an ihnen vorbei stiefelte, sahen sie kurz auf,
senkten aber schnell wieder die Köpfe und versuchten, einen beschäftigten
Eindruck zu erwecken, bis endlich jemand das verdammte Monster weggeräumt
hatte.
„Das ist mal wieder typisch“, dachte Fräulein Pfeffer im Vorbeigehen.
„Sie tragen ihr Hirn nur im Kopf herum, damit es kein Echo gibt, wenn
sie sich etwas zu Essen in den Mund werfen.“
Außerdem machte es sie ein wenig traurig, dass niemand reagierte, obwohl sie so
offensichtlich dabei war, das Dorf für immer zu verlassen. Schließlich zeigte
Witwe Holznagel doch Erbarmen.
„Heidelore! Was tust du denn da? Hilf mir lieber, diesen Hohlköpfen
Beine zu machen, damit sie endlich den stinkenden Bettvorleger da aus dem Weg
schaffen!“
Niemand außer Annemarie Holznagel nannte Fräulein Pfeffer beim Vornamen. Als er
äußerst betrunken gewesen war, hatte es einmal ein weiterer missratener Neffe
des Bürgermeisters probiert. Seitdem trug er auf der Stirn ein „Muttermal“, wie
er es nannte, das verdächtige Ähnlichkeit mit dem Abdruck eines gewissen,
gusseisernen Krückstocks aufwies. Doch Fräulein Pfeffer hatte nichts dagegen,
von Witwe Holznagel beim Vornamen genannt zu werden. Im Gegenteil, sie hielt
sie für die einzige weitere Person im Dorf, die mit Hirn und etwas, dass sie
„Gut darin sein, anderen Leuten Feuer unter‘m Arsch zu machen“ [Hätte
Fräulein Pfeffer das Wort „Führungsqualitäten“ gekannt, hätten wir ein wenig
Tinte und Papier gespart. Sie sehen: Mangelnde Bildung richtet unsere Welt zu
Grunde.] nannte, gesegnet war. Glücklicherweise beruhte diese Ansicht auf
Gegenseitigkeit.
So steuerten die beiden Frauen das Dorf sicher durch den reißenden Strom der
Zeit. Der beschränkte Bürgermeister hatte natürlich nicht die geringste Ahnung
davon und hing immer noch dem Irrglauben an, er führe das Dorf. [Ein
unter Männern weit verbreiteter Irrtum.]
„Ich gehe“, antwortete Fräulein Pfeffer schlicht.
„Wohin? Du wirst hier gebraucht, das weißt du. Liegt es an Margarethe?“
Wie gesagt… Mit Hirn gesegnet.
„Nein.“ Sie zögerte. „Hm, nicht nur. Es liegt an den Monstern, das kann
so nicht weitergehen. Wir haben schon zwei Tote zu beklagen und dem alten
Willibald haben sie inzwischen auch noch sein anderes Bein abgebissen. Wie lange
soll das noch so weitergehen, bis von uns gar nichts mehr übrig ist? Wir sind
nicht schnell genug, wir können die Viecher nicht immer rechtzeitig
erschlagen.“
„Aber was willst du tun? Du weißt nicht einmal, woher sie überhaupt
kommen. Wohin willst du gehen?“
„Nach Vacorta. [Damit folgte sie der alten Weisheit, die da lautete:
„Alle Mistkerle führt es nach Vacorta.“ Nun ist der kleine Tonkrug der
landläufigen Weisheiten geradezu ein Paradebeispiel für die Evolution, da
solche Weisheiten ständig irgendwo entstehen. Dementsprechend herrscht in dem
kleinen Tonkrug (Nein, es ist diesmal keine Metapher! Wo er steht, verrate ich
allerdings nicht) ein irrsinniges Gedränge und die Weisheiten kriegen kaum das
Klatschmaul schnell genug auf, um die nächste Konkurrentin zu fressen. Es gibt
nur eine einzige Weisheit, die nur frisst, niemals aber gefressen wird und
deshalb auch keinen Grund mehr darin sieht, sich irgendwie zu verändern.
Es handelt sich dabei um die oben genannte. Ich bin sicher, Darwin wäre äußerst
verblüfft gewesen, hätte er sie kennen gelernt, doch er hätte schnell den Grund
für diese Tatsache erkannt: Ihr Inhalt entsprach voll und ganz der Wahrheit.] Irgendjemand
ist dafür verantwortlich, da bin ich mir sicher. Es kommen nicht einfach von
heute auf morgen wahre Heerscharen von Ungeheuern aus dem Wald.
Für solche Untaten kann nur ein Mensch verantwortlich sein.
Ich werde ihn finden.“
„Und dann?“
„Dann werde ich mich… offiziell beschweren.“ Dabei ließ Fräulein Pfeffer
ihren Krückstock schwungvoll auf die Handfläche klatschen.
Witwe Holznagel wusste, dass ihre Freundin in dieser Stimmung nicht aufzuhalten
war. Und sie wusste, dass sie für kein Gold der Welt in der Haut desjenigen
stecken wolle, bei dem sich Fräulein Pfeffer beschweren wollte.
„Es wird schwer ohne dich“, sagte sie.
„Aber du wirst es schaffen. Du musst“, war die knappe Antwort.
In einem stillen Moment gegenseitigen Einverständnisses schauten sich die
beiden alten Frauen noch einmal in die Augen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren,
drehte sich Fräulein Pfeffer um und verschwand im Wald. Witwe Holznagel
verscheuchte das bedauernde Lächeln von ihrem Gesicht und ersetzte es durch das
mimische Pendant einer mit Gebrüll geschwungenen Streitaxt.
Sie drehte sich zu den anderen Dorfbewohnern um, die den Kadaver immer noch
keinen Zentimeter bewegt hatten. Mit Unheil verkündendem Gang schritt sie auf
die Menschentraube zu.
***
Natürlich gab es nicht nach wenigen hundert Metern einen zweiten
Ausgang. Im Gegenteil, Pablo und Poncho liefen inzwischen seit ungefähr zwei
Stunden, worauf sie sich nach einem langen Streitgespräch geeinigt hatten,
durch eine undurchdringliche Finsternis. Da Pablo wie ein Schlafwandler mit
ausgestreckten Armen den Weg ertasten musste, kamen sie nicht besonders schnell
voran. Der Zahn, der als Waffe dienen sollte, war ihm bei einem der ersten
Zusammenstöße mit der Höhlenwand aus der Hand gefallen und spurlos in der
Dunkelheit verschwunden.
Es war zwar nicht so, dass sich die beiden an das Gefühl der bösartigen, beobachtenden
Augen gewöhnt hatten, doch sie hatten nach einiger Zeit gelernt, die Angst
einfach zu ignorieren.
Trotzdem war die Stimmung von verbissener Entschlossenheit geprägt, es kam kein
Gespräch auf. Doch nur einige Minuten später schien sich die Situation
grundlegend zu ändern.
„Hey, Fleischbeutel! Ich sehe ein Licht!“, meldete sich Poncho
überraschend zu Wort.
„Du hast nicht einmal Augen, wie willst du da etwas sehen? Du
fantasierst doch“, warf Pablo ein. Dabei wusste er genau, dass die Sinnesorgane
des Kleidungsstückes deutlich schärfer waren als seine eigenen, wollte dies
aber nicht zugeben. Außerdem wagte er es noch nicht, sich nach so kurzer Zeit
schon wieder Hoffnung zu machen.
Poncho hingegen wusste, dass er Recht hatte und erwiderte deshalb nichts.
Nach einigen Minuten blinden Vorantastens meinte auch Pablo, grobe Umrisse in
der Dunkelheit erkennen zu können. Er ging weiter und bog um eine überraschend
aufgetauchte Ecke. Das Licht war so hell, dass er fast zurück ins Dunkel
getreten wäre, doch die unsichtbaren Augen hielten ihn schließlich davon ab.
„Ha!“, erklang es triumphierend.
Pablos Augen, die nach stundenlanger Finsternis immer noch Schwierigkeiten mit
dem plötzlich aufgetauchten Licht hatten, begannen wieder zuverlässiger zu
funktionieren. Von der großen Höhle, aus der sie kamen, [Pablo vermutete
zumindest, dass es eine war] war hier im beleuchteten Bereich nichts mehr
zu erahnen. Soweit Pablos Auge reichte, sah er einen schmalen Gang, der bergab
weiter in das Felsmassiv hinein führte. Dazu ist allerdings zu sagen, dass sich
das anfangs so hell erscheinende Licht nach kurzer Eingewöhnungsphase als gar
nicht mehr so hell herausgestellt hatte und Pablo in dem schummrigen Glühen
nicht wirklich weit sehen konnte.
Das Glimmen war von orangener Farbe, es verbreitete dadurch zwar Wärme, wirkte
aber andererseits auch bedrohlich. Erzeugt wurde es von einer Art Schimmelpilz
oder Flechte, die an den groben, feuchten Felswänden flächendeckend wuchs.
„Na gut, du hattest Recht. Aber bringt uns das wirklich weiter? Nein.
Das Licht ist kein Ausgang und es geht nur bergab, was ich persönlich für die
falsche Richtung halte. Also weiter.“
„Pff“, schnappte Poncho empört. Doch auch er konnte seinen Triumph nicht
richtig auskosten, da seine Entdeckung ihre Lage nur unwesentlich verbesserte.
Und so ging es weiter unter die Erde. Der Gang veränderte sich kaum, mal wurde
er breiter, mal schmaler, doch er führte stetig bergab.
Nach einer weiteren, scharfen Biegung, die genau so aussah, wie all die anderen
zuvor, entfuhr den beiden Wanderern ein Laut des Erstaunens.
„Das gibt’s ja nicht!“ Pablo hatte als erstes seine Fassung wieder
errungen.
„Na anscheinend doch.“
Vor den beiden erstreckte sich die größte Höhle, die sie jemals gesehen hatten.
Wie groß sie wirklich war, konnten sie gar nicht abschätzen, denn der Boden war
übersät mit Felstrümmern, die vom kleinen Steinchen bis zum haushohen Brocken
reichten. Zusätzlich wuchsen so viele Stalagmiten und Stalaktiten aus dem Boden
und der Decke, dass Pablo und Poncho sich vorkamen wie in einem riesigen
Labyrinth aus Säulen.
„Meinst du, es ist gefährlich? Es könnte uns fressen“, sprach Pablo und
deutete auf den Boden. Die Feuchtigkeit von den Wänden schien in der Höhle
zusammenzulaufen, es gab mehrere kleine Bäche. Die Flächen zwischen diesen
Wasserläufen waren von einer Art Alge bewachsen, auf die sich Pablos Frage
bezog.
Die dicken Algenteppiche glühten, wie die gesamte Höhle, in dem bereits
bekannten, rötlichen Licht.
„Es ist eine Alge. Algen fressen keine Menschen.“
„Woher willst du das wissen? Du bist kein Mensch, also kennst du dich
auch nicht mit Menschen aus. Und schon gar nicht mit Lebewesen, die Menschen
fressen. Ich habe schon von Raubtieren gehört, die aussehen wie dicke, saftige
Moosbüschel, aber ganze Wildschweine verschlingen können. Wenn mir in einer
komischen Höhle eine derart verdächtige Alge begegnet, bin ich nun mal
vorsichtig!“
„Das ist wieder typisch Mensch. Ihr mit den eingeengten Bahnen, in denen
ihr denkt. Immer nur Vorurteile! Da begegnet dem feinen Herr einmal ein
Moos-Algen-Pilz-Irgendwas-Ding, das nicht grün ist, wie es der feine Herr
erwartet, und schon bezeichnet er es als „verdächtig“. Das sind Pflanzen, mehr
nicht. Hast du schon mal eine gefährliche Pflanze erlebt?“ Sofort bemerkte
Poncho den Fehler in seiner Argumentation, als er an Livenbäume dachte. Doch
Pablo schien es in seinem Zorn gar nicht zu bemerken.
„ So etwas lasse ich mir von dir nicht sagen! Nicht von jemandem, der
Menschen regelmäßig mit Würstchen vergleicht!“
„Warum denn auch nicht? Ein Haufen Fleisch unbekannter Herkunft, das von
einer Art Haut zusammengehalten wird. Kaum zu etwas zu gebrauchen, aber
trotzdem beliebt.“
Jetzt reichte es Pablo.
Er streifte den aufsässigen Poncho von der Schulter, warf ihn etwas fester als
notwendig auf den Steinboden und trat mit einem großen Schritt in die leicht
wogende Algenmasse. Innerhalb weniger Sekunden war er bis zur Hüfte
eingesunken.
Er versuchte sich freizustrampeln, doch es brachte nichts. Die Algen schienen
ihn festhalten zu wollen und er sank immer weiter in die feuchte Tiefe.
„Poncho!“, schrie er. „Hilf mir!“
„Versuche ich doch, aber du musst mir auch zuhören! Ich sagte, du sollst
schwimmen. Mach einfach Schwimmbewegungen, Mann!“
Pablo hatte schon eine Antwort auf den Lippen, doch sie kam nicht mehr heraus,
da sein Kopf bereits größtenteils unter Wasser war.
Da ihm nichts anderes übrig blieb, versuchte er tatsächlich, Ponchos Rat zu
befolgen.
Und tatsächlich, es funktionierte! Schon konnte er wieder frei atmen, selbst
nach einer Minute war er noch an der Oberfläche. Keine Alge hatte ihn hinab
gezogen, kein wütender Fisch ihm das Bein abgebissen.
Jetzt, wo sein Verstand nach dem ersten Schock wieder etwas klarer war,
bemerkte auch Pablo, was Poncho anscheinend viel früher aufgegangen war.
Die Algen bedeckten an dieser Stelle gar nicht den Höhlenboden, sondern waren
in einer Art Teich so dicht gewachsen, dass sie wie fester Grund wirkten.
Durch die Schwimmbewegungen wurden die Algen zur Seite geschoben und Poncho
schwamm in dem zwar kalten, aber ansonsten ganz normalen Wasser.
„Wenn du deine dramatische Showeinlage zum Thema Ertrinken nun beendet
hast, würde ich gern aufsteigen.
Das Wasser macht mich immer so… schwermütig“, klang es spöttisch vom Ufer.
Tatsächlich sog sich Poncho bei Kontakt zu ausreichenden Mengen an Flüssigkeit
innerhalb von Sekunden voll und neigte dazu, wie ein Stein unterzugehen.
Deshalb schwamm Pablo zum Rand des Teiches und ließ seinen Gefährten mit einem
verächtlichen Schnaufen aufsteigen.
Ihm war die ganze Situation furchtbar peinlich, er konnte förmlich spüren, wie
Poncho auf seinem Kopf grinste.
Der wusste dies, sprach kein Wort und kostete die besondere Situation voll und
ganz aus. Nach wenigen Minuten hatte Pablo das kleine Gewässer durchquert und
stieg aus dem Wasser, das seiner Meinung nach mit jeder Sekunde kälter geworden
war.
Hier wuchs zwar ebenfalls ein dichter Algenteppich, aber wieder auf festem
Steinboden.
Poncho versuchte noch einige Anspielung zum Thema der Algen zu machen, die sich
weiterhin eher matschig und weich als gefährlich präsentierten, doch Pablo ging
nach seiner „Nahtoderfahrung“, wie er es nannte, gar nicht erst darauf ein.
Im Schatten [Den es aufgrund der gleichmäßigen Beleuchtung nicht wirklich
gab.] eines gigantischen Felsbrockens ließen sich die beiden Gefährten auf
einem trockenen Stück Stein zwischen einem Algenfeld und einen kleinen Bach
nieder, um sich auszuruhen. Sie tranken ein paar Schlucke von dem klaren
Wasser, versuchten sich einigermaßen gemütlich hinzulegen, was nur Poncho, der
auf Pablos nicht unbeträchtlichem Bauch Platz nahm, gelang, und schliefen vor
Erschöpfung ein.
Die gestaltlosen Augen, die sie die ganze Zeit zu beobachten schienen, waren in
diesem Moment vergessen.
Es knirschte leise, als ein großer Fuß feinen Sand auf hartem Fels verrieb.
Klauen kratzten über Stein, als ein Wesen versuchte, sich lautlos
fortzubewegen. Es verfolgte einen Geruch, den es hier nicht erwartet hatte.
Seine großen, haarigen Füße trugen das Wesen durch einen kleinen Bach, die
Kälte machte ihm nicht das Geringste aus.
Da lag sie, die Quelle des Geruchs, und schlief tief und fest.
Lautes Schnarchen erfüllte die abgestandene Luft.
Noch ein kleiner Schritt fehlte, um den Ursprung des Geruchs endgültig zu
erreichen. Doch das Wesen hatte nicht mit den glitschigen Algen gerechnet, die
sich unter der schaumigen Oberfläche des Bächleins verbargen.
Einige Sekunden lang führte das Wesen einen grotesken Tanz auf, der in
praktisch jeder bekannten Kultur zu finden ist und dazu dient, die verlorene
Balance zurückzuerlangen, doch das Wesen schien in der Tanzschule nicht
aufgepasst zu haben, denn schließlich fiel es. Direkt vor Pablos Füße, was die
Sache noch unangenehmer machte.
„Scheiße!“, entfuhr es dem Wesen.
Pablo und Poncho schreckten schlagartig hoch. Kurz wähnte sich Pablo in einem
gemütlichen Bett und hielt die Geräusche, die er wahrgenommen hatte, für einen
Alptraum.
Dann wanderte sein Blick über seinen Bauch die Beine herab und schließlich
darüber hinaus. Was er dort erblickte, ließ die Illusion der Sicherheit wie
eine Seifenblase zerplatzen.
Direkt vor seinen Füßen lag ein riesiger Schädel, der, abgesehen von der
enormen Größe, fast menschlich aussah, wäre da nicht die starke Tendenz in
Richtung Affe gewesen.
Doch auch mit einem Affenkopf ließ sich dieses Exemplar nicht wirklich
vergleichen, war doch das gesamte Gesicht von schneeweißem Fell bewachsen. Auch
die gelben, leicht wässrig wirkenden Augen waren um ein vielfaches größer, als
man selbst bei einer so gewaltigen Visage erwartet hätte.
Als die Kreatur entschuldigend grinste, entblößte sie vier riesige Eckzähne,
die den Eindruck erweckten, sie könnten einer Rasierklinge noch einiges zum
Thema Schärfe beibringen.
Während sich Pablo einfach tot stellte, da er vor Schock sowieso gelähmt war,
verließ sich Poncho auf seine weitaus zuverlässigere Tarnung als unbedeutendes
Kleidungsstück.
Die merkwürdige Kreatur richtete sich derweil etwas unbeholfen auf, wobei sie
Acht gab, nicht erneut auszurutschen und wischte sich Staub und Algengelée aus
dem Fell.
In voller Lebensgröße betrachtet fiel auf, dass die Dimensionen des Körpers im
Einklang mit denen des Kopfes standen, die Kreatur war mindestens zweieinhalb
Meter groß. Vom Körperbau her schien sie eine Mischung aus Gorilla, Mensch und
Bär zu sein, wirkte allerdings noch massiver.
Da war sich Pablo jedoch nicht ganz sicher, denn unter dem langen, verzottelten
Fell waren die wahren Konturen des Körpers nicht ganz ersichtlich. Einen
Schwanz besaß die Kreatur nicht.
Als sich auch nach einiger Zeit die so unsanft Geweckten nicht rührten, zuckte
das Wesen mit den Schultern und begann zu sprechen.
„Tut mir Leid, Jungs. Wollte euch nicht stören, nur gucken, ob hier
wirklich noch jemand ist. Gleich zwei Leute, das find‘ ich klasse. Bin auf den
verdammten Algen hier ausgerutscht, war wirklich keine Absicht. Haut euch ruhig
wieder hin, wir können ja später reden. Bin übrigens Yeti.“
Etwas verschämt kratzte sich Yeti am Hinterkopf, er schien auf eine Absolution
hinsichtlich der unsanften Störung zu warten.
„Wieso sagst du Jungs zu mir?“ war das erste, was Pablo heraus brachte.
Eine innere Stimme schalt ihn sogleich für diese unhöfliche und wenig
geistreiche Antwort. Eine andere Stimme lobte ihn jedoch, dass er mehr als
einen panischen Schrei herausgebracht hatte, somit war Pablo mit sich selbst
relativ zufrieden.
„Na ja, dachte der Poncho da auf dir ist einer von der intelligenten
Sorte. Hab mich wohl doch geirrt.“
„Aber nein, keineswegs!“, erscholl es sofort. Während Poncho sprach,
richtete er sich stolz zu seiner vollen Größe auf.
„Intelligent ist genau der richtige Ausdruck. Die Menschen
sehen sich ja gerne als Krone der Schöpfung an, aber wo wären sie ohne uns?
Nackt und unwissend würden sie in der Sonne verbrennen. Es freut mich, einmal
jemanden kennen zu lernen, der sich dieser Tatsachen bewusst ist. Poncho ist
mein Name.“
Pablo traute Yeti noch nicht weit genug, um sich jetzt über seinen Begleiter zu
ärgern. Er wollte noch mehr über den nächtlichen [Ohne Tageslicht war für Pablo
immer dann Nacht, wenn er schlief.] Besucher erfahren.
„Bist du ein Yeti oder ist Yeti dein Name?“
„Beides.“
„Woher kommen Yetis? Ich habe noch nie von ihnen gehört, dabei bin ich
Monsterjäger. Nicht, dass ich dich zu Monstern zählen würde, aber ich könnte
mir vorstellen, dass manch ungebildeter Bauer dich für so etwas hält.“
„Tja, er ist leider ziemlich ungebildet“, entschuldigte sich Poncho, der
ebenfalls nicht die geringste Ahnung hatte, was ein Yeti sein sollte, für
seinen menschlichen Begleiter.
Es kam nicht allzu oft vor, dass er als intelligent bezeichnet wurde. Dieses
Attribut wollte er um keinen Preis wieder aberkannt bekommen.
Yeti hingegen schien sich um solche Dinge keinerlei Gedanken zu machen.
„Schon in Ordnung. Wohnen weit weg in den Bergen, weit im Norden und
auch ein wenig im Osten. Bin mit meinem Freund Hornleid hier. Ist auch ein
Mensch.“
„Was führt einen Mensch und einen Yeti in dieses merkwürdige
Höhlensystem? Ist es üblich, dass ihr Yetis unter Menschen lebt?“
Pablos Furcht schwand und wurde zunehmend durch Neugierde ersetzt. Außerdem
konnte es nie schaden, etwas über Lebewesen zu erfahren, mit denen man einfache
Bauern und Dorfbewohner einschüchtern oder beeindrucken konnte.
„Redet zu viel. Bringe euch zu unserem Lager. Gibt Feuer, Essen und
Hornleid redet wie eine Ungtulla-Frau. Wird euch gerne antworten. Kommt.“
Die Kommunikation schien den haarigen Koloss wirklich erschöpft zu haben. Müde
rieb er sich die riesigen Augen, sein Gang ähnelte einem Schlurfen, als er sich
in Bewegung setzte.
Mit einem kurzen Blick [Wenn man sich nur lang genug kennt, ist es durchaus
möglich, sich mit einem nicht menschlichen Wesen per Blickkontakt zu
verständigen. Ein typisches Beispiel ist der Hundebesitzer, der sich mit seinem
vierbeinigen Freund bei allen Gelegenheiten lang und breit unterhält, während
er mit seiner Ehefrau selbst an der grundlegenden Kommunikation scheitert.
Bewusstseinserweiternde Drogen, zu denen man im entferntesten Sinn auch Alkohol
zählen kann, potenzieren diese Fähigkeit.
Es kommt nicht von ungefähr, dass Betrunkene oft stundenlang in ihr Glas
stieren. Was meinen Sie, was so manche Gläser alles zu erzählen haben… ] verständigten
sich Pablo und Poncho. Sie kamen darin überein, dass Yeti trotz seines Äußeren
gar nicht gefährlich, sondern eher nett wirkte. Ein Schulterzucken von Pablo
besiegelte die Sache.
Poncho legte sich wieder ordentlich um Pablos Schultern, dann begann der
Marsch.
Es ging durch Bäche, Kiesfelder, um Felsbrocken herum, darüber hinweg, um
Algenteppiche herum und darüber hinweg, Pablo und Poncho hätten bereits nach
fünf Minuten den Weg zurück zu ihrem alten Lagerplatz nicht mehr gefunden.
Der Yeti hingegen schien keinerlei Probleme zu haben, sich zurechtzufinden. Mit
seinen merkwürdigen Bewegungen, die an ein Kind in einem zu großen Körper
erinnerten, legte er ein Tempo vor, dem Pablo kaum folgen konnte.
Sie traten hinter einem weiteren Felsblock hervor.
Vor ihnen erhob sich eine riesige Felssäule, die Höhlenboden und Decke
miteinander verband. Selbst an der dünnsten Stelle in der Mitte durchmaß sie
noch über zwanzig Meter.
„Sind da“, sagte Yeti. Erst jetzt entdeckte Pablo das kleine Lager, das
am Fuß der Säule aufgeschlagen worden war. Ein kleines Zelt, eine große
Bastmatte, auf der vier Menschen liegend Platz gefunden hätten und ein
Lagerfeuer verliehen dem Ort sofort eine gemütliche Atmosphäre.
Yeti ließ sich umgehend auf seine Matte fallen, Pablo und Poncho rückten so nah
wie möglich ans Feuer. Beide froren, die Feuchtigkeit am Körper und in der
Kleidung quälte beide seit Stunden, so wussten sie die Wärme des Feuers mehr zu
würdigen als jemals zuvor in ihren Leben.
„Wo ist denn dein Gefährte jetzt?“, fragte Pablo, dem noch ein
weiteres menschliches Wesen fehlte, um sich wieder einigermaßen wohl fühlen zu
können.
„Klettert natürlich. Guck nach oben, da kommt er.“
Tatsächlich. Bei ganz genauem Hinsehen konnte man an der riesigen Felssäule ein
dunkles Seil bemerken, das in scheinbar unendliche Höhen führte. Am Ende des
sichtbaren Bereiches turnte eine Gestalt an dem Seil herum, in einer Höhe, die
sich Pablo nicht einmal vorzustellen wagte, aus Angst, sein Mageninhalt könnte
einen Exodus veranstalten.
Schnell näherte sich das kletternde Wesen.
Die Körperform erschien Pablo merkwürdig klobig, er rätselte, ob es nicht doch
ein weiterer Yeti war.
Nach einigen weiteren Metern war glücklicherweise zu erkennen, dass es sich
tatsächlich um einen Menschen handelte!
Die klobige Form rührte von dem Rucksack her, den der Mann trug. Es war ein
gewaltiger, rechteckiger Rucksack mit einer aufgebundenen Rolle, möglicherweise
einem Schlafsack oder einer Matte. An allen Seiten ragte das gewaltige
Gepäckstück weit über den Rücken des Mannes hinaus.
Der Mann selbst schien immer kleiner zu werden, obwohl er sich rasant näherte.
Er war nirgendwo gesichert, schwang jedoch einen riesigen Eispickel, den er
immer wieder in den Felsen schlug, um festen Halt zu finden.
Schließlich hatte er den Boden erreicht und sprang mit einer Lässigkeit auf den
glitschigen Algenteppich, die Pablo unweigerlich Bewunderung abverlangte, da er
selbst bei langsamstem Tempo ständig ausrutschte.
Ansonsten war der Mann wenig bewundernswert, zumindest bezüglich der
Körpergröße. Er war ausgesprochen klein.
Fast verschwand er zwischen dem riesigen Rucksack, an dem tatsächlich ein
aufgerollter Schlafsack befestigt war und dem ebenfalls unglaublich großen
Eispickel, der sich bei näherem Hinsehen als ausgewachsene Spitzhacke
herausstellte. Der größte Teil des sichtbaren Körpers verschwand zudem unter
einer gewaltigen Masse an Haaren.
Ordentlich rasiert hätte Pablo ihn wohl niemals wieder erkannt. Das einzig
auffällige an dem kleinen Mann war, abgesehen von der geringen Größe, die Farbe
seiner Haare.
Am Kopf trug er eine blonde Mähne, der Bart war hingegen kohlrabenschwarz und
erstreckte sich bis zum Gürtel.
„Tach!“, grüßte das merkwürdige Männchen. „Hornleid heiß ich. Hätte
nicht damit gerechnet, hier noch nen Typen anzutreffen.“
„Zwei!“, krähte Pablo.
Der kleine Mann guckte verwirrt und suchte nach der Stimme, die scheinbar aus
dem Nichts kam.
„Ist ein Poncho.“, erklärter der Yeti. Nach einer kurzen Pause fügte er
hinzu: „Intelligenter Poncho.“
An Hornleids Reaktion erkannte Pablo den weltgewandten Mann, der schon vieles
erlebt und gesehen hatte.
Die buschigen, schwarzen Augenbrauen zogen sich verwundert in die blonde Mähne
zurück, kamen aber ebenso schnell wieder hervor. Dann begrüßte Hornleid den
Poncho, als hätte er täglich mit sprechenden [Poncho hätte jetzt sicherlich
eingeworfen, dass er ein intelligentes Kleidungsstück sei, kein sprechendes.
Tatsächlich existiert ein gewaltiger Unterschied, auch wenn wir gerne Sprache
mit Intelligenz gleichsetzen. Auch Papageien können sprechen, doch mit ihrer
Intelligenz ist es nur für tierische Maßstäbe weit her.
Zugegebenermaßen handelt es sich dabei um antrainierte Sätze und keine
intelligente Kommunikation, doch in vielerlei Hinsicht ist der Papagei, der mit
erheiternder Zuverlässigkeit die Gäste beleidigt, um ein vielfaches
intelligenter als so mancher (sprechende) Mensch.] Kleidungsstücken zu tun.
Pablo hatte den Mund noch nicht ganz geöffnet, um nun selbst einige Fragen zu
stellen, da unterbrach der kleine, behaarte Mann ihn auch schon.
„Na na. Im Stehen redet es sich so schlecht. Kommt in mein Lager, esst,
trinkt und dann können wir reden. Kannst du Bauchtanz, Bursche?“
Kurz kämpfte Pablo gegen den Drang, auf der Stelle wegzurennen. Doch die
angekündigte Mahlzeit ließ ihn die Frage einfach nur mit „Nein, und ich habe
auch kein Interesse, es zu lernen“ beantworten.
Hornleid kommentierte dies mit einem
„In Ordnung, ich verstehe schon“, das er wohl schon ziemlich oft von sich
gegeben hatte.
Daraufhin bereitete er Pablo und Poncho das beste Mahl ihres Lebens.
Es bestand aus verbrannten Würstchen und einer Art Bohneneintopf, den Hornleid
merkwürdigerweise in Metalldosen mit sich herum trug.
Aber mit der Belastung durch hohes Gewicht oder unsinnigen Gegenständen schien
der Mann, Pablos Meinung nach, sowieso nicht viel am Hut zu haben.
Dazu gab es einen äußerst schmackhaften Tee, den Hornleid, wie er behauptete,
aus den überall vorhandenen Algen kochte.
Nach dieser erlösenden Mahlzeit wollte Pablo endlich wissen, mit wem er es
genau zu tun hatte.
Er vertraute den beiden merkwürdigen Gesellen zwar, sie erschienen ihm nach dem
ersten Schock durchaus sympathisch, doch allein die Tatsache, dass Hornleid und
der Yeti in dieser furchtbaren Höhle unterwegs waren, ließ sie ziemlich
verrückt erscheinen. Dieser Verrücktheit wollte Pablo auf den Grund gehen.
Wieder kam ihm Hornleid zuvor.
„So, gegessen haben wir. Jetzt kannst du all deine Fragen stellen und
ich werde dir antworten, so gut ich kann“, erscholl es aus dem Bart, bei dem
sich Pablo nicht mehr sicher war, ob er wirklich überwiegend aus Haaren oder
doch eher aus Bohneneintopf bestand. Um auf die Menge Eintopf zu kommen, die er
in seinem Bart verteilt hatte, musste er eigentlich noch zusätzlichen Eintopf
erbrochen haben. Satt konnte er jedenfalls nicht sein.
„Erst einmal vielen Dank für das Essen“, setzte Pablo an.
Bei einem winzigen Mann, der selbst beim Klettern ungefähr hundert Kilogramm
Gewicht mit sich herumzutragen schien und zudem noch von einem fast drei Meter
großen Albinoaffen begleitet wurde, hielt er ein wenig Höflichkeit durchaus für
ratsam.
„Geschenkt.“
Da für Hornleid die Sache damit erledigt zu sein schien, legte Pablo nun los.
„Die wichtigste Frage zuerst. Was macht ihr überhaupt hier unten?“
„Bergsteigen natürlich! Sieht man doch eigentlich an der Ausrüstung“
„Ich kenne mich zwar nicht besonders gut aus mit der Bergsteigerei,
aber… “ Pablo suchte nach einer Formulierung, die nicht danach klang, als halte
er sein Gegenüber plötzlich für verrückt.
„… Macht man das nicht eigentlich in den Bergen?“
Naivität schien ihm die beste Wahl zu sein.
Glücklicherweise schien Hornleid nicht sonderlich empfindlich zu sein. Er
lachte erst einmal so laut, sodass der Yeti, der bisher völlig desinteressiert
auf seiner Matte geschlafen hatte, erschreckt die Augen aufriss.
Auch Poncho, der sich aufs aufmerksame Lauschen verlegt hatte, hüpfte
angesichts der enormen Lautstärke einige Zentimeter zurück. Misstrauisch
schaute er zu den dolchähnlichen Tropfsteinen über sich, die bei Hornleids
lauter Lache zu vibrieren schienen. Doch es rieselte nicht einmal Staub von der
Höhlendecke, also zuckte Poncho mit den Fransen [Die Fransen entsprechen bei
einem Poncho ungefähr den menschlichen Achseln. Langwierige Forschungen waren
zu dieser Erkenntnis nicht notwendig, man erkannte es sehr schnell am Geruch.
Wenn man viel Glück hatte, riecht es nach Deo…] und machte es sich
wieder gemütlich.
Hornleid hatte sich inzwischen wieder gefasst und sprach zu Pablo wie zu einem
Kind:
„Im Prinzip hast du Recht, Kerl. Ich bin vielleicht nicht der größte
Bergsteiger der bekannten Welt, aber sicherlich der großartigste. Ich habe eine
Menge Berge bestiegen, inzwischen langweilen die Berge mich.
Wir haben von dieser Höhle gehört, mit dieser wunderbaren Tropfsteinlandschaft,
also sind wir hierher gekommen.
Und ich sage dir, das Klettern ist eine Wucht! Es fehlt zwar ein bisschen an
Gletscherspalten, rutschigem Schnee und dünner Luft, doch dafür gibt es keine
langweiligen Wiesen und sanfte Hänge, sondern es geht immer mindestens
senkrecht nach oben. Ritz mal dein Kreuzchen da oben in die Höhlendecke, danach
fühlst du dich wie neu geboren, sag ich dir. Auch der Ausblick ist einfach der
Hammer.“
„Ist wahrscheinlich so ähnlich, wie auf einen Igel herabzusehen“,
versuchte Pablo Verständnis vorzutäuschen. Sein Blick schweifte unauffällig in
Richtung der Höhlendecke, die teilweise nach einigen hundert Metern in Nebel
und Dunkelheit verschwand. Ängstlich kehrten seine Pupillen in eine Position
zurück, in der sie Hornleid fixieren konnten.
"Was macht ihr zwei Typen denn hier drin? Ihr scheint ja keine Bergsteiger
zu sein", fragte nun Hornleid.
"Wir wurden hereingelegt. Man warf uns in eine Höhle, damit wir von einem
Monster gefressen werden. Doch dieses Höhlensystem ist gigantisch, viel größer
als alle dachten. Glücklicherweise haben wir auch noch kein Monster gesehen.
Eigentlich ist es sogar ganz nett hier." Das war eine glatte Lüge. Es
erschien Pablo ratsam, ihren seltsamen Retter bei Laune zu halten. Sich selbst
und Poncho als Opfer darzustellen, hielt er auch für wesentlich klüger, als
seine eigene betrügerische Absicht, die sie in diese Lage geführt hatte, zu
gestehen.
"Tja, das mit dem Ausgang ist so eine Sache. Wir sind schon absichtlich in
dieser Höhle, aber eigentlich wollten wir auch durch einen normalen Eingang
hier herein."
"Wenn ihr nicht durch einen Eingang gekommen seid, wie dann?"
"Wir sind eingebrochen. Nichtsahnend stapften wir mehr oder weniger
fröhlich durch dieses merkwürdige, trockene Land mit den gefährlichen Bäumen,
da brach plötzlich der Boden unter uns ein. Wir landeten in einem unterirdischen
Fluss, der uns nach einigen Tagen zu dieser großen Höhle führte. Da oben ist
ordentlich was zusammengekracht, das haben wir noch einige Stunden später
rumpeln gehört. Einen Ausgang wird‘s da wohl nicht mehr geben. Und wo du das
Monster erwähnst… Einige merkwürdige Sachen sind uns schon aufgefallen… "
Pablos wohliges Gefühl war wie weggeblasen. Sofort waren die unsichtbaren Augen
wieder da. Aus Ponchos Ecke ertönte ein Schaben, als er sich verkrampfte. Pablo
traute sich kaum, die entscheidende Frage zu stellen.
"Was für merkwürdige Sachen?"
"In der Gegend wo wir abgestürzt sind, gab es wohl vorher schon einige
Einstürze. Vielleicht, weil der Boden so trocken ist. Wir haben verschiedene
Tiere gefunden.
Sie waren alle tot. An ihren Knochen war kein Gramm Fleisch mehr. Ich habe noch
nie etwas gesehen, das derart blanke Skelette zurücklässt."
"Vielleicht lagen sie auch schon sehr lange dort." Warf Pablo
hoffnungsvoll ein. Hornleid schauderte. Das Schaudern dieses scheinbar so
furchtlosen Mannes jagte Pablo mehr Angst ein, als alles andere, was ihm bisher
in den Höhlen widerfahren war.
"Nein, das war definitiv frisch. Ich hätte nicht gedacht, dass so viel
Blut in einer einzigen Kuh drin ist. Der Boden und die Wände waren förmlich
gestrichen damit."
"Ach, es gibt doch viele Tiere, die über eine verängstigte Kuh herfallen.
Ich habe sogar Ratten gesehen, die sich über ein krankes Kalb hergemacht
haben." Das entsprach zwar nicht der Wahrheit, aber Pablo wollte um jeden
Preis Zuversicht verbreiten.
Hornleid hob die Augenbrauen. Er fragte:
"Greifen Ratten auch ausgewachsene Baumbären an?"
Pablo blieb fast das Herz stehen. Baumbären lebten in den wilden Livenwäldern
der Region. Sie ernährten sich hauptsächlich von verirrten Wanderern und
Livenkernen. Allein das sagt genug über diese Bärenart aus, neben der ein
gemeiner Braunbär wirkt, wie ein Dackel neben einem Wolf. Die einzige bekannte
Methode, einen Baumbären zu vertreiben [Daran, sie zu töten, verschwendete
man erst gar keinen Gedanken.] war es, seinen Wald anzuzünden und möglichst
schnell wegzurennen.
Wenn man Glück hatte, war der Bär nach dem Brand verschwunden. Wenn man Pech
hatte, war er ins eigene Dorf geflüchtet. Einige Geisterdörfer zeugten von
solchen Unglücken.
Selbst mehrere Jahre nach solch einem Vorfall mieden die Nachbarn das Gebiet
des verlassenen Dorfes. Bei einem Baumbären ging man einfach kein Risiko ein.
Die Vorstellung von einem Wesen, dass solch ein Ungetüm anscheinend ohne
größere Gegenwehr getötet hatte, machte den sofortigen Suizid fast schon
attraktiv.
Die vier Gestalten rückten etwas näher ans Feuer. Sie fühlten sich plötzlich
sehr alleine und verloren in dieser riesigen Höhle.
Doch schnell kehrte Hornleids fröhliches Wesen zurück.
"Wir haben noch kein Monster gesehen, dabei hätte es schon genug
Möglichkeiten gehabt, uns anzugreifen. Also macht euch mal keine Sorgen, wir
passen schon auf, dass nichts passiert. Wenn ihr wollt, suchen wir morgen mit
euch einen Ausgang aus diesem Labyrinth."
Pablo fragte sich, was selbst Hornleid und der riesige Yeti gegen ein Wesen
ausrichten wollten, dass einfach so einen Baumbären tötete und seine Knochen
abnagte, bis sie weiß glänzten. Doch das Angebot, aus der Höhle herausgeführt
zu werden, erschien ihm sehr verlockend.
"Das wäre echt klasse. Wir stünden für immer in eurer Schuld!"
"Papperlapupp Schuld. Wo kommen wir denn hin, wenn sich die Menschen
gegenseitig nicht mehr helfen." Dass die Hälfte ihrer kleinen Gruppe nicht
menschlich war, schien Hornleid nicht zu stören.
"Aber jetzt ist es spät. Wir müssen morgen wieder fit sein. Ich hau mich
jetzt aufs Ohr."
Hornleid sprach mit solcher Gewissheit, dass Pablo sich erst gar nicht fragte,
wie er in einer Höhle die Tageszeit bestimmen konnte. Der kleine Mann schien
generell Möglichkeiten zu haben, die anderen Menschen nicht zur Verfügung
standen.
Yeti und Poncho schliefen sowieso inzwischen, also wünschte Pablo seinem Retter
eine gute Nacht und machte es sich so gut wie möglich auf dem Höhlenboden
bequem.
Bei jedem Geräusch rückte er ein Bisschen näher an das Feuer heran, bis er sich
schließlich fast verbrannte.
Dann schnellte er wieder ein Stück in die Dunkelheit hinein, bis ihn die Angst
wieder zum Feuer zurücktrieb. So verbrachte Pablo eine äußerst unruhige
"Nacht".
Irgendwann tönte es: "Auffi gehts, der Berg ruft! Oder die Höhle,
scheißegal. Aber raus aus den Federn!" in einer solchen Lautstärke, dass
Pablo innerhalb von Sekundenbruchteilen senkrecht auf seiner Matte saß.
Poncho kroch völlig unbeeindruckt auf ihn zu und legte sich um seine Schultern.
"Na, Dicker, gut geschlafen? Ich dachte, ihr Menschen liegt still, wenn
ihr euch ausruhen wollt."
Natürlich hatte Poncho Pablos unerquickliche Nachtruhe mitbekommen. Dieser
durchschaute die gespielt gute Laune seines Begleiters sofort, Poncho konnte
kaum besser geschlafen haben, wenn er so genau Bescheid wusste.
"War nur eine Ausnahme. Aber du fandest sie wohl so interessant, dass du
stundenlang zugucken musstest, hm?", raunte er zurück.
"Ich sehe dich so selten in Bewegung, da lasse ich mir einfach keine
Gelegenheit entgehen. Und jetzt hoch mit dem dicken Hinterteil, es geht
los."
Poncho hatte recht.
Irgendwie hatte es Hornleid geschafft, innerhalb weniger Minuten das Feuer zu
löschen und das komplette Nachtlager bis auf ein Häufchen Asche spurlos zu beseitigen.
Vermutlich war alles in seinem riesigen Rucksack verschwunden. Auf jeden Fall
standen er und der Yeti bereit zum Aufbruch und beobachteten Pablo.
Dem hatte seine Nacht auf dem Höhlenboden einige schmerzende Knochen, Gelenke
und Muskeln eingetragen, sodass sein Versuch, schwungvoll aufzustehen, von
qualvollen Grunz- und Stöhnlauten begleitet wurde. Sogar der ruhige Yeti
grinste offensichtlich.
Als die schmerzhafte Prozedur beendet war, fragte Pablo, als sei nichts
gewesen:
„Ihr wisst also wo es lang geht, ja?“, woraufhin das Grinsen des Yetis
noch etwas breiter wurde. Hornleid zog nur die Augenbrauen hoch. Wahrscheinlich
war ihm der Gedanke, den richtigen Weg nicht zu wissen, gar nicht erst
gekommen. Kurz darauf stiefelte er auch entschlossen los und Pablo hatte seine
liebe Mühe, dem Bergsteiger zu folgen.
Wieder einmal ging es durch kristallklare Bäche, über glitschige Algen und
natürlich über Sand, Kies, Steine und Felsen.
„Nur für den Fall, würdest du es bemerken, wenn er uns in einem großen
Kreis führt?“, raunte es an Pablos Ohr. Er schnaufte nur, das war Antwort
genug.
„Na dann ist ja gut.“
„Misstraust du ihnen etwa immer noch? Sie hätten schon so viele
Gelegenheiten gehabt, uns etwas anzutun, doch sie haben uns immer nur geholfen.
Mir scheint, du kannst nicht damit umgehen, dass es jemanden gibt, der noch
haariger ist als du“, neckte Pablo.
„Meinst du den Yeti oder Hornleid?“, kam es zurück und beide kicherten
leise. Plötzlich drehte sich auch der Yeti um, er zuckte bedeutungsvoll mit den
Ohren. Er grinste freundlich und deutete mit den Händen einen gewaltigen Bart
an, bevor er noch einmal zwinkerte und seinen Blick wieder nach vorne richtete.
Auch das letzte bisschen Bedrohlichkeit war nun verschwunden.
Pablo ertappte sich dabei, wie er die Wanderung fast schon genoss. Er hatte
sich schon lange mit niemandem mehr so verbunden gefühlt, abgesehen von Poncho.
Fast schien es, als wären die vier Wanderer schon seit Jahren eng befreundet.
Trotz allem war der Weg durch das unwegsame Gelände äußerst anstrengend.
Pablo bezweifelte, dass sie schon eine nennenswerte Strecke zurückgelegt
hatten. Seine Füße hingegen versuchten bereits nach einer Stunde, ihm äußerst
glaubwürdig klar zu machen, dass sie schon mindestens zwei Tage am Stück
liefen.
Um sich selbst und seine Füße von Erschöpfung und Schmerz abzulenken, begann er
wieder ein Gespräch mit Hornleid.
„Wie kommt es eigentlich, dass ihr beide gemeinsam unterwegs seid?“
„Hö?“ Hornleid schien die Frage gar nicht zu verstehen, also ergriff Poncho
das Wort:
„Er will dir Folgendes sagen: Normalerweise ist ein Mensch schon seinem
Artgenossen aus dem Nachbardorf gegenüber so misstrauisch und ablehnend
eingestellt, dass er mit ihm möglichst nichts zu tun haben möchte. Deshalb
wundert es unseren Botschafter für Völkerverständigung, dass du ausgerechnet
mit einem Yeti unterwegs bist, der mit einem Menschen noch weitaus weniger zu
tun hat. Das soll ein Kompliment sein.“
„Hat mir das Leben gerettet“, ergriff überraschenderweise der Yeti
selbst das Wort.
„Musste ihn für ein Jahr und einen Tag begleiten und beschützen, um
Schuld abzutragen.“
„Vergiss nicht zu erwähnen, dass das inzwischen sechs Jahre her ist“,
mischte sich nun auch Hornleid ein. „Kannst ruhig zugeben, dass wir ein gutes
Team sind, alter Brummbär.“
„Hast Recht. Wollte mehr von der Welt sehen als nur das Mittelgebirge,
wo Yetis leben. Aber alle Yetis sind faul und fühlen sich wohl, wo sie sind.
„Auf dem benachbartem Berg liegt auch nur Schnee, selbst wenn er in der Sonne
glitzert“, lautet ein altes Yeti-Sprichwort. So denken sie alle zu Hause.
Aber Hornleid hat mir gezeigt viel von der Welt.
Berge ohne Schnee, Schnee ohne Berge, Berge unter der Erde und noch vieles
mehr. Hab‘ Dinge gesehen, würde mir zu Hause niemand glauben.“
„Und Yeti ist einfach der beste Begleiter, den man sich vorstellen
kann“, ergänzte Hornleid. „Er ist nicht so furchtbar… menschlich.“
„Und endlich seht ihr es ein!“, krähte Poncho dazwischen. „Wir
nicht-Menschen sind einfach die besseren Menschen.“
Pablo verdrehte die Augen.
Als er bemerkte, dass Hornleid ihn ansah, blickte er zurück. In diesem Moment
verstanden sie sich gut.
„Wahrscheinlich kommt auch er mit anderen Menschen nicht besonders
gut aus. Dafür haben wir beide einen guten Freund gefunden, den andere Menschen
kaum akzeptieren würden“, versuchte Pablo sich das plötzliche Gefühl des
gegenseitigen Einverständnisses zu erklären.
Inzwischen waren sie, ohne dass er es bemerkt hatte, dem bzw. einem Rand der
Höhle näher gekommen.
Die Decke hatte sich so weit herabgesenkt, dass man sie deutlich erkennen
konnte. Erst jetzt fiel Pablo auf, wie unheimlich es gewesen war, sich in einer
Art geschlossenem Raum zu befinden, dessen Begrenzungen man nicht sehen konnte.
Doch dieses angenehme Gefühl konnte er kaum genießen, denn mit jedem Meter, den
sie zurücklegten, näherte sich die Höhlendecke dem Boden.
Es dauerte nicht mehr lange, da musste Yeti bereits den Kopf einziehen. Noch
ein bisschen später und Pablo musste gebückt laufen, was seinem geschundenen
Rücken gar nicht gut tat. Bevor Hornleid in die gleiche unangenehme Situation
kam, trat allerdings ein ganz anderes Problem auf.
Direkt vor ihnen standen die Stalagmiten und Stalaktiten so dicht, dass ein
Durchkommen eigentlich unmöglich schien.
Hornleid brummelte etwas und holte einen Kerzenstummel aus seinem gigantischen
Rucksack. Er zündete ihn an und warf ihn gekonnt zwischen den Felsnadeln
hindurch.
Es war gut zu erkennen, dass sich dahinter ein Gang erstreckte. Die Freude über
einen Ausgang hielt sich bei Pablo allerdings in Grenzen, denn er sah keine
Möglichkeit, die Hindernisse zu überwinden.
„Wir müssen.“, sagte Hornleid nur. Genau so sicher, wie er diesen Gang
in der riesigen Höhle gefunden hatte, schien er nun zu wissen, dass es der
einzige seiner Art war, zumindest in erreichbarer Nähe.
Er zog seinen Eispickel, der eigentlich eine Spitzhacke war, hervor und
zauberte aus den Tiefen des Rucksacks noch eine zweite hervor.
Diese war noch ein gutes Stück größer und augenscheinlich für den Yeti
bestimmt.
„Hornleid… “, brummte dieser scheinbar ziemlich unglücklich.
„Die Dinger sind instabil. Kann verdammt gefährlich werden.“
Der bärtige Mann brummte zustimmend, doch er starrte bereits konzentriert in
den Wald aus Felsnadeln. Schließlich antwortete er doch noch.
„Nur die wegstrategisch wichtigen, S-Elemente stehen lassen … Wobei sich
mindestens eins nicht vermeiden lassen wird.“
„Wenn nicht sogar zwei“, kam die Antwort vom Yeti.
„Maximale N-E?“
„Zehn.“
Zweifelnd hob der Yeti seine Augenbrauen, nach einem weiteren Blick auf das
Hindernis nickte er aber zustimmend.
„Bitte was ist los?“, fragte Poncho leise. Als Pablo nur ratlos die
Achseln zuckte, wandte sich Hornleid zu ihnen um. Er hatte den Mund bereits
geöffnet, doch da erinnerte er sich, dass er es mit völlig unerfahrenen Leuten
zu tun hatte. Gedanklich strich er seine Instruktionen zusammen und sagte nur
noch:
„Wir werden ein paar von diesen Dingern umhacken. Es kann gut sein, dass
dabei etwas einstürzt. Das ganze wird verdammt gefährlich, wenn ich JETZT rufe,
rennt ihr in den Gang. Ohne zu zögern, egal was passiert. Verstanden?“
Pablo nickte und Poncho gab mit belegter Stimme ein leises „Jo“ von sich. Wenn
man genauer darüber nachdachte, war es in der großen Höhle ja gar nicht so übel
gewesen. Es gab Wasser, viel Platz und…
Doch da fingen Hornleid und der Yeti schon an, mit den Spitzhacken die
Felsnadeln zu bearbeiten.
Eigentlich hatte Pablo das Durchschlagen der bis zu einen Meter dicken Felsen
für eine kaum zu bewältigende, zumindest äußerst langwierige Angelegenheit
gehalten.
Als er jedoch sah, mit welcher Kraft und Geschwindigkeit die zwei Bergsteiger
zu Werke gingen, änderte er seine Meinung.
Hornleid schien, vor allem in Anbetracht seiner Größe, über gewaltige Kräfte zu
verfügen. Ohne ein Anzeichen von Anstrengung schwang er seine Spitzhacke und
schlug den harten Fels in Stücke. Doch auch Hornleids kräftigste Schwünge
wurden von den Schlägen in den Schatten gestellt, die der gewaltige Yeti
austeilte. Er grunzte und knurrte dabei ohne Unterlass, wirkte wie ein rasendes
Tier.
Was nur nach roher Gewalt aussah, bestand offensichtlich auch zu einem großen
Teil aus guter Technik. Die Felsnadeln fielen meist schon nach wenigen
Schlägen, und das in eine anscheinend genau vorberechnete Richtung, denn keine
einzige fiel dort auf den Boden, wo Hornleid ihren Weg eingeplant hatte.
Schließlich machten sich Hornleid und Yeti an einer besonders dicken Säule zu
schaffen. Als diese plötzlich fiel, zitterte die ganze Höhlendecke.
Was Yeti zum Thema Stabilität geäußert hatte, schien durchaus zutreffend zu
sein. Es rieselte kleine Steinchen, ab und zu löste sich sogar ein Felszapfen
von der Decke und sauste als gefährliches Geschoss zu Boden.
Ein tiefes Grollen drang von überall her auf Poncho und Pablo ein. Dann war es
so weit.
"JETZT!", brüllte Hornleid.
Pablo zögerte nicht und rannte gebückt auf den hoffentlich rettenden Gang zu.
Er wollte keine Sekunde länger in dieser Höhle bleiben, die sich zunehmend mit
einem gefährlichen Gemisch aus kleinen Steinchen, Staub und herabfallenden
Felsteilen füllte.
Gerade war auch Pablos Fuß in dem kleinen Gang verschwunden, da tat es einen
gewaltigen Schlag, ein Donnern setzte ein und gewaltige Staubschwaden quollen
aus der großen Höhle.
Gequält schloss Pablo die Augen, Poncho murmelte etwas von ehemals schönen
Farben und ausklopfen, genau war es aber nicht zu verstehen.
Gebannt lauschten beide nach dem Ton, den schlagende Spitzhacken von sich
geben, doch da war nichts. Das Donnern ebbte langsam ab, Totenstille [Dieser
Begriff ist eigentlich überhaupt nicht zutreffend. Wer schon einmal das
Vergnügen hatte, sich in den Sphären aufzuhalten, in denen man auch frisch
Verstorbene vorfindet, kann dies sicherlich bezeugen. Die Toten fangen
normalerweise aufgeregt und verwirrt an zu plappern. Möglicherweise wäre es
besser, einen Begriff wie "Totengeschnatter" zu verwenden.
Totengeschnatter kann man sich als unverstorbener Leser wie das vorstellen, was
die Luft erfüllt, wenn man in einem großen Saal aufhält, in dem eine Party
stattfindet. Aber es gibt nun mal einige Dinge, die von einem Schriftsteller
erwartet werden, deshalb halte ich, wider besseren Wissens, an der Totenstille
fest.] erfüllte die Luft.
Nichts rührte sich.
Pablo seufzte verzweifelt. Er wusste ganz genau, dass er es ohne die zwei
Bergsteiger wohl niemals hier herausschaffen würde. Auch stimmte es ihn
traurig, die beiden gerade erst gewonnenen Freunde schon wieder verloren zu
haben.
Plötzlich teilte sich der Vorhang aus Staub und eine riesige, graue Masse schob
sich in den Gang. Sie grunzte: "Da sind wir!" und Pablo erkannte die
Gestalt als den völlig eingestaubten Yeti. Er trug Hornleid wie einen Sack über
die Schulter gelegt, hielt ihn nur an einem Fußgelenk fest.
Nur wenige Sekunden später erklang ein kurzer Schnarcher und Hornleid begann,
den Yeti wüst zu beschimpfen, er möge ihn doch endlich loslassen.
Als Hornleid stand, sah man, dass auch er völlig mit Staub bedeckt war. Nur
einige rote Spuren lockerten das Grau an den Stellen auf, wo ein paar Tropfen
Blut aus den unzähligen Kratzern und Schnittwunden flossen, die er sich in der
Höhle zugezogen haben musste.
Niemand hielt es für nötig, noch etwas zu sagen.
Sie sahen sich alle einmal respektvoll an, dann klatschte Hornleid Pablo mit
der flachen Hand auf den Hintern und rief fröhlich: "Auf geht‘s, stehend
kommt man nirgendwo an."
Erschreckt sprang Pablo fast bis an die Höhlendecke, doch er schob Hornleids
Ausrutscher auf dessen Erleichterung, noch am Leben zu sein und ließ es dabei
bewenden.
So trabten die die drei grauen Gestalten, die eigentlich vier Gestalten waren,
los.
Auch dieser Gang wurde beleuchtet von den allgegenwärtigen Flechten und glich
dem, durch den Pablo und Poncho bereits am Anfang ihrer unterirdischen Reise
geirrt waren.
Nach kurzer Zeit stellte Pablo fest, dass es sich um eine Art Labyrinth handeln
musste, denn der Gang gabelte sich ständig.
An jeder dieser Gabelungen blieb Hornleid stehen, überlegte kurz und betrat
sicheren Schrittes eine der beiden Öffnungen.
Nach welcher Methode Hornleid seine Entscheidungen traf, war Pablo vollkommen
schleierhaft, doch es sah immer sehr selbstbewusst aus.
An einer dieser Kreuzungen geschah es. Plötzlich waren die unsichtbaren Augen
wieder da, stärker als je zuvor. Pablo wusste, dass er sie sich dieses Mal
nicht einbildete, denn auch Hornleid und Yeti waren ruckartig stehen geblieben,
während Poncho sich schmerzhaft um seine Schulter verkrampfte.
"Das Monster", hauchte Pablo nur. Gerade noch war er so
zuversichtlich gewesen, nun schien es keine Möglichkeit mehr zu geben, dem Tod
zu entrinnen.
Hornleid brummte irgendetwas, nahm seine Spitzhacke fest in die Hand und
reichte Pablo ein Messer, das wie eine abenteuerliche Kreuzung aus Bohrer,
Schwert und Säge wirkte. Pablo bezweifelte, dass es ihm etwas nützen würde,
doch er war ausgesprochen dankbar, nicht mit bloßen Händen gegen das Monster
antreten zu müssen. Kurz blitzen in seinem Kopf Bilder auf, wie er durch einen
Glückstreffer die Bestie zerteilte oder durch einen heldenhaften, aber
aussichtslosen Kampf mit anschließendem Opfertod seinen Begleitern die Flucht
ermöglichte.
Wieder einmal schien Poncho seine Gedanken gelesen zu haben.
"Es gibt keinen heldenhaften Tod, du Narr", flüsterte er ihm ins Ohr.
Die Bilder in Pablos Kopf zerplatzten wie von einer Nadel zerstochene
Seifenblasen. Neue Bilder machten sich breit. Er selbst, blutend, mit
schrecklichen Bisswunden übersät, von seinen eigenen Innereien umringt, tot am
Boden.
Ein leises Scharren ertönte, die Richtung konnte Pablo nicht bestimmen. Auch
dies hatte er sich nicht eingebildet. Hornleid, Pablo und der Yeti, dessen Fell
gesträubt war, rückten immer näher zusammen.
Schließlich standen sie Rücken an Rücken, von Angst erfüllt, doch bereit, sich
zu verteidigen, was immer da kommen möge.
Lässig ließ Hornleid den Schaft der Spitzhacke in die Handfläche seiner linken
Hand klatschen.
Dieses Mal war Pablo sich allerdings sicher, dass die Zuversicht, die diese
Geste vermittelte, nur gespielt war.
Das Scharren wurde lauter.
Dann kam das Monster. Eine riesige Masse Fell schob sich rasend schnell aus
einem der Gänge heran.
Kurz darauf konnte Pablo erkennen, dass es sich nicht um ein Monster handelte,
sondern um viele. Jedes von ihnen hatte die Form einer Kugel, die von langem
Fell in allen möglichen Braun- und Grauschattierungen bedeckt war. Aus dem
zottigen Fell ragten dürre, aber lange Arme und Beine hervor, die vollkommen
fellfrei, aber dafür mit einer ledrigen, grauen Haut bedeckt waren.
In den Händen hielten die Wesen große Holzkeulen, die sie bedrohlich schwangen.
Doch das Bedrohlichste waren nicht diese Keulen, sondern die riesigen Mäuler
der Kreaturen.
Der ganze runde Körper schien auf der Vorderseite nur aus einem riesigen Maul
zu bestehen, gierig aufgerissen und mit dutzenden scharfer, dreieckiger Zähne
besetzt.
Wie eine Flutwelle rollten diese nur hüfthohen Monster heran, übereinander,
hintereinander, durcheinander.
Das alles geschah ohne ein einziges Geräusch, die Kreaturen kreischten nicht,
brüllten nicht und grunzten nicht. Nur ihr Fell erzeugte ein unheimliches Rascheln,
das Scharren verursachten die ledrigen Füße, wenn sie über den rauen Felsboden
rutschten
Dann war die erste Bestie heran und Hornleids Spitzhacke traf sie mitten in den
Kopf, was im Nachhinein betrachtet keine große Kunst war, da sie schließlich
aus kaum etwas anderem bestand.
Trotzdem klappte die Kreatur zusammen und verschwand unter ihren herannahenden
Artgenossen.
Es folgte ein Kampf, an den sich Pablo später kaum noch erinnern konnte.
Die Monster waren schnell und viel stärker, als Pablo erwartet hatte. Doch sie
kämpften ohne jegliche Taktik, stürzten sich blindlings in Spitzhacken, Klauen
und überdimensionierte Sägemesser. Es war wie ein Rausch.
Pablo hackte und stach beinahe blindlings um sich, wehrte eisenharte
Holzknüppel mit seiner eigenen Waffe ab, doch die Angreifer wurden nicht
weniger. Natürlich kamen nicht für jeden gefallenen Angreifer zwei neue nach,
dies würde bereits nach wenigen Minuten zu einem unlösbaren Platzproblem
führen, aber immerhin wurde jedes gefallene Monster sofort durch einen
Artgenossen ersetzt. Das reichte auch.
Vor allem der Yeti wütete unter den Angreifern. Er brüllte und knurrte und
schnappte mit seinen Zähnen, die plötzlich gar nicht mehr an sein breites
Grinsen, sondern an das Gebiss eines riesigen Raubtieres denken ließen, nach
den Angreifern. Beinahe nebensächlich teilte er mit seinen haarigen Pranken
gewaltige Hiebe nach allen Seiten aus, welche die Fellkugeln nur so durch die
Gänge schleuderten.
Wieder einmal wurde Pablo, der die Konsequenzen von Yetis ungezügelter Wut aus
den Augenwinkeln mitbekam, klar, wie groß der Yeti wirklich war und wie sehr
seine Kräfte denen eines Menschen überlegen waren.
Die Schläge der kleinen Monster schien Yeti gar nicht zu spüren.
"Warum beißen sie nicht?", fragte sich Pablo. Mit ihren weit
aufgerissenen Mäulern hätten die kleinen Wesen dem Yeti schon längst tiefe
Wunden zufügen können, doch aus irgendeinem Grund schienen sie darauf zu
verzichten.
Auch erinnerte sich Pablo nicht daran, selbst mit dem Maul attackiert worden zu
sein. Doch die Freude darüber war nur von kurzer Dauer.
Mit einer Wucht, die Pablo den hüfthohen Fellkugeln niemals zugetraut hätte,
traf ihn einer der Knüppel in die Magengegend. Er klappte augenblicklich
zusammen.
Ein mitfühlendes Fluchen von Poncho war das letzte, was er hörte, dann wurde es
schwarz um ihn, als ihn mindestens ein weiterer Knüppel am Kopf traf.
***
Seit mehreren Stunden schritt Fräulein Pfeffer nun durch den
dichten Wald und sie dachte gar nicht daran, langsamer zu werden. Wer hier auf
dem Land alt werden wollte, musste laufen können. [Selbstverständlich reden
wir hier nicht von der Strecke vom Bett bis zum Nachttopf, sondern eher von
Waltrauds Wurstwaren bis nach Hause, während es in Strömen regnet. Dieser „Weg“
wurde gelegentlich auch eingesetzt, um die Qualität neuer Pferde zu testen.
Überlebte es, war es ein gutes Pferd.] Außerdem trieb der Zorn sie immer
noch an, ihr Krückstock bohrte tiefe Löcher in den weichen Waldboden.
Viele Leute hätten den Wald wahrscheinlich als unheimlich empfunden. Die
großen, alten Bäume standen so dicht beieinander, dass man abseits des Weges
keine zehn Meter weit sehen konnte. Dazwischen erstreckte sich ein wahrer
Urwald aus Büschen, Farnen und Moosbüscheln. Letztere sahen äußerst weich und
gemütlich aus, diese Sitzkissen der Natur luden förmlich zu einer kleinen Rast
inmitten der grünen Idylle ein.
Allerdings hatte Fräulein Pfeffer schon einmal gesehen, wie ein junges Reh
darauf trat, mit einem schmatzenden Geräusch verschwand und nie wieder
zurückkehrte.
Im Nachhinein betrachtet hatte sie es zwar etwas merkwürdig gefunden, dass ein
Moosbüschel stank wie ein Rudel Füchse und an seinen Rändern scharfe Zähne
trug, aber wer konnte denn auch mit so etwas rechnen? Seitdem hielt sie sich
vorsichtshalber von jeglichem verdächtigen Grünzeug fern, was natürlich
keinesfalls mit Angst zu verwechseln ist.
Angst ist etwas, das Stadtbewohner im Wald haben, weil sie an Wölfe und Bären
denken. In diesem Wald gab es ebenfalls Wölfe und Bären, warum auch nicht, doch
um sie machte Fräulein Pfeffer sich nicht die geringsten Gedanken.
Im Gegensatz zu verhaltensgestörten Moosen besaßen Wölfe und Bären eindeutig
ein Gehirn, was mehrere Vorteile mit sich brachte. Erstens versetzte es die
Tiere nach einigen Lektionen in die Lage, einen kilometerweiten Umweg zu gehen,
wenn sie Fräulein Pfeffers Geruch wahrnahmen, zweitens bot es eine gute
Möglichkeit, die Tiere dennoch los zu werden, indem man nur kräftig genug
darauf schlug.
Langsam wurde es dunkel. Gerade im Wald, dessen Boden aufgrund der dicht
belaubten Bäume kaum ein Lichtstrahl erreichte, war die Sicht nun deutlich
schlechter als noch vor einer Stunde.
Fräulein Pfeffer lief etwas langsamer, was ihr durchaus sinnvoll erschien, da
ein langsames Tempo immer noch schneller ist als das, was man mit einem
gebrochenen Knöchel zu Stande bringt.
Außerdem hatte sie etwas gehört. Sie wusste nicht genau, ob sie es sich
eingebildet hatte, wenn die Augen nicht mehr richtig sahen, verfiel auch das
Gehör schnell in Panik und neigte dazu, merkwürdige Dinge wahrzunehmen.
Doch falls da wirklich etwas war…
Sie packte den Krückstock fester und blieb stehen um zu lauschen. Da ertönte
hinter ihr eine helle Stimme:
„Zur Hülf, zur Hülf! Der Wolf ist hier, der Wolf ist hier!“
Während sich Fräulein Pfeffer noch wunderte, welcher Mensch denn tatsächlich
„Zur Hülf“ rief, reagierte ihr Körper instinktiv und suchte mit erhobenem
Krückstock den Wald ab, der sich immer weiter auf den schmalen Weg zu schieben
schien, während man nicht hin sah.
Dabei fiel ihr Blick auch auf die Person, die anscheinend von einem Wolf
verfolgt wurde.
Es war ein Mädchen, sie… .
Fräulein Pfeffer stutzte. Es musste ein Mädchen sein, dachte sie, aber… Die
Frau… Das Mäd…
Ihr Gehirn versuchte mit widersprüchlichen Eindrücken klarzukommen, schaffte es
aber nicht ganz. Also führte es erst einmal eine reine Beobachtung durch,
sollte sich doch jemand anders mit der Interpretation des Gesehenen
beschäftigen.
Die weibliche Person hatte strohblondes Haar, das zu zwei Zöpfen geflochten
war, die links und rechts am Kopf herab fielen. Darüber trug sie eine Unterhos…
Ein Stück Stoff.. Eine rote Unterhose, die aus unschicklich wenig Material zu
bestehen schien und wie ein Tuch über dem Kopf zusammengebunden war. Das
Gesicht war zwar eindeutig weiblich, im Dunkeln aber nicht genauer zu erkennen.
Das mädchenhafte Kleid, ebenfalls rot, saß an den dicklichen
Oberschenkeln derart knapp, dass … Fräulein Pfeffer nur hoffen konnte, das Tuch
auf dem Kopf sei nur die Ersatzunterhose des Mädch… Der Person. Zum Beispiel
für den Fall, dass sie sich einmal bücken- oder auf einem Stuhl Platz nehmen
musste.
Der enorme Busen, der durch wenige Quadratzentimeter roten Stoffes nicht
annähernd verhüllt wurde, bestätigte Fräulein Pfeffer in der Annahme, dass es
sich, trotz des Kleides und der Zöpfe, keinesfalls um ein Mädchen handeln
konnte.
Nachdem Fräulein Pfeffers Augen sich wieder so weit zurückgezogen hatten, dass
die Nasenspitze wie gewohnt das Gesicht anführte, rang sie kurz um Fassung und
fragte dann mit ruhiger Stimme, für die sie sich selbst bewunderte:
„Kann ich Euch irgendwie helfen, gute… Frau?“
„Ohhh, zur Hülf, zur Hülf! Ich bin Rotkäppchen und der böse, böse Wolf
ist hinter mir her und will mir gar schreckliche Dinge antun!“
Da war er auch schon! Ein knisternder Zweig, eine Bewegung in der Dunkelheit.
Fräulein Pfeffer fuhr herum und schlug zu. Gusseisen traf auf Wolfsfell, ein
Stöhnen, ein Schrei, der verdächtig nach „Was… Ahhhrggh“ klang, und das Untier
stürzte.
„Was tust du denn da?“, kreischte Rotkäppchen plötzlich, rannte zu dem
gestürzten Wolf und kniete neben ihm nieder.
Fräulein Pfeffer entrang ihren Instinkten und Reflexen die Kontrolle über den
Körper, um einen genaueren Blick auf das erlegte Raubtier zu werfen.
Irgendetwas stimmte damit nicht.
Es war eindeutig ein Wolf, das erkannte man am Fell, aber so dürr…
Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen:
Der vermeintliche Wolf war ein relativ dünner Mann, der sich in ein Wolfsfell
gehüllt hatte. Erschreckenderweise ausschließlich in ein Wolfsfell.
Fräulein Pfeffer erstarrte wieder. Sie war zwar alt, allerdings war sie stets
so beschäftigt gewesen, dass ihr gewisse Erfahrungen, die andere Frauen in
bedeutend geringerem Alter machten, fehlten. Dieser Anblick in Kombination mit
der merkwürdigen Situation überforderte sie einfach. Überfordert zu sein war
für sie eine so neue Erfahrung, dass sie für wenige Sekunden nicht wusste, wie
sie damit umgehen sollte.
Doch da gab der vermeintliche Wolf ein paar annähernd menschliche Laute von
sich, die Rotkäppchen mit einigen Worten der Erleichterung kommentierte.
Fräulein Pfeffer schüttelte die Starre ab und beschloss, der Situation nun
endgültig auf den Grund zu gehen.
Währenddessen baute sich Rotkäppchen vor ihr auf, streckte den voluminösen
Busen weit nach vorne und setzte zu einer Schimpftirade an.
„Was fällt Ihnen eigentlich ein, Sie altes Weib! Der arme Kai, er kann
froh sein, dass er noch am Leben ist! Was ist das überhaupt für ein… “
„Sei still, du närrisches Ding“, fiel Fräulein Pfeffer ihr mit schneidender
Stimme ins Wort.
Rotkäppchen blieb augenblicklich die Luft weg, aber Fräulein Pfeffer war noch
lange nicht fertig.
„Was fällt dir eigentlich ein, derart bekleidet durch den Wald zu
laufen! Trägst eine Unterhose, die so klein ist, dass man aus dem Stoffrest,
der beim Nähen abfällt, gleich zehn daraus schneidern könnte, und dazu noch auf
dem Kopf!
Anstatt den Rock züchtig bis zu den Knöcheln zu tragen, muss ein Mann nur
seinen Schuh binden, um… “
Ihr fehlten die Worte, doch die andere Frau war im Gesicht bereits rot wie ein
reifer Apfel.
„Und das Oberteil erst! Man könnte dich ja zu den Milchkühen auf die
Weide stellen, ohne dass es jemand bemerken würde, und genau das sollte man mit
einem Mädchen wie dir auch tun! In deinem Alter sollte man wissen, wie man sich
schicklich anzieht. Dazu läufst du hier mit einem Mann herum, nachts alleine im
Wald. Nicht nur, dass ihr wahrscheinlich nicht einmal verheiratet seid, nein,
dieser Mann trägt nur ein Wolfsfell, und sonst nichts! Man kann sogar, man sieht
sogar… “
An dieser Stelle klappte Fräulein Pfeffers Mund einfach vor Erbostheit zu. Sie
presste noch schnell ein
„Erklär mir, was das hier soll!“ zwischen den Lippen hervor,
verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete das Ergebnis ihrer Predigt.
Die gar nicht mehr so junge Frau, wie mittlerweile erkennbar war, wirkte nun
tatsächlich wie ein Mädchen, das bei einem schlimmen Vergehen erwischt worden
war. Ihr Gesicht glühte, sie schaute betreten zu Boden und spielte mit den
Fingern an ihren Zöpfen, ohne es zu bemerken.
Mit schüchterner, leiser Stimme begann sie zu reden, ohne Fräulein Pfeffer
dabei in die Augen zu sehen.
„Wisst Ihr, werte Frau… “
„Fräulein!“
„… wertes Fräulein, Kai und ich sind nun schon seit einigen Jahren
zusammen und nun ja, wie soll ich sagen?“
„Ich weiß es nicht.“ [In ihrem Zorn vergaß Fräulein Pfeffer manchmal
die Funktionsweise der menschlichen Kommunikation.]
„Wenn man sich schon so lange kennt… “, Frau Rotkäppchen war so
darauf konzentriert, eine neutral formulierte Antwort zu finden, dass sie den
Kommentar der älteren Frau nicht einmal registriert hatte.
„Es ist einfach so, dass man sich zu gut kennt. Keine neuen
Herausforderungen mehr, keine… Entdeckungen. Ihr wisst schon, gute Frau.
Das gewisse Feuer brennt nicht mehr und da lässt man sich etwas einfallen, um
es wieder anzufachen. Wir sind nicht nur so tief in den Wald gegangen, weil die
Atmosphäre besser zu unserem… .unserem Konzept passt, es ging natürlich auch
darum, nicht zu vielen anderen Menschen zu begegnen.“
Sie überlegte kurz.
„Wobei eine gewisse Entdeckungsgefahr die Sache natürlich… Aber was rede
ich da. Es tut mir außerordentlich Leid, dass wir Sie in diese Sache mit
hereingezogen haben, werte Frau… “
„FRÄULEIN!“
„… wertes Fräulein, entschuldigt. Allerdings hoffe ich, dass Sie uns die
Belästigung verzeihen können, denn ich bin mir sicher, dass sie unsere
Situation verstehen und… ja.“
„Aber natürlich verstehe ich das“, sagte Fräulein Pfeffer und verstand
nicht das Geringste. Wie gesagt, ihr fehlten gewisse Erfahrungen, was sie
jedoch nicht als Grund ansah, dies auch zuzugeben.
„Es ist schon in Ordnung. Wir ziehen einfach weiter unserer Wege und
vergessen die ganze Angelegenheit.“
Sie lächelte der Rotkäppchen-Frau aufmunternd zu, deren erwartungsvoller Blick
sich in Erleichterung verwandelte. Sie murmelte noch ein Wort des Dankes und
verschwand mit ihrem Gefährten, der sich schon vor einiger Zeit wieder den
eigenen Füßen anvertraut hatte, aber nicht so dumm gewesen war, sich in das
Gespräch einzumischen, irgendwo in der Dunkelheit.
Das zufriedene Lächeln wich nicht von Fräulein Pfeffers Gesicht, selbst als das
Paar schon längst verschwunden war.
Sie hatte allen Grund zur Zufriedenheit:
Zwar verstand sie nicht das Geringste von dem, was gerade passiert war, aber
eine gestandene Frau hatte sich bei ihr entschuldigt, obwohl sie gerade dem
Begleiter eben dieser Frau fast den Schädel eingeschlagen hatte.
Das war an sich schon ein Grund für ein hämisches Schmunzeln, doch viel
wichtiger war ein anderer Aspekt der Begegnung.
Sie war ein Zeichen. Kein göttliches oder übernatürliches Zeichen, einfach ein
Zeichen, das der gesunde Menschenverstand zu deuten wusste.
Die Leute benahmen sich eindeutig verrückt und das bedeutete, dass sie sich der
so genannten Zivilisation näherte.
Und genau die war schließlich ihr Ziel.
Mit neuem Mut schritt Fräulein Pfeffer weiter durch den finsteren Wald.
***
Pablo erwachte.
Eine vertraute Stimme flüsterte sanft in sein Ohr: "Liebling, wach auf!
Das Frühstück ist fertig!"
Das klang doch recht überzeugend, also öffnete er widerwillig die Augen. Er
erblickte einen alten, dreckigen Poncho, der ein widerwärtig meckerndes Lachen
von sich gab.
"Na gut, ich habe ein bisschen übertrieben. Aber Frühstück gibt es
wirklich."
Pablo wurde ein alter, faulig riechender Fleischfetzen unter die Nase
gehalten, der ihn augenblicklich würgen ließ.
Sofort ertönte Ponchos meckerndes Lachen erneut.
"Wo sind wir?"
"Guck dich doch mal um. Eine spitzen-Herberge, alles vom Feinsten. Prima
Ausblick, ein deftiges Frühstück.
Du hast uns mal wieder in eine paradiesische Situation gebracht, mein Großer.
Ich meine, wer will schon ein leckeres, geröstetes Brot mit etwas Wurst oder
einem Spiegelei, wenn man auf das ganze schmückende Beiwerk verzichten- und ein
deftiges Stück Fleisch haben kann"
Wieder wurde Pablo der vergammelte Fetzen vor die Nase gehalten. Als der
Zellhaufen, der gerade dabei war, auf eine alternative Art erneut lebendig zu
werden, aus seinem Blickfeld verschwunden war, sah er sich erst einmal
gründlich um.
Nicht, dass es viel gebracht hätte.
Die Aussicht war, im Widerspruch zu Ponchos sarkastischer Beschreibung, sehr
begrenzt.
Nach wenigen Metern versperrten Felswände, natürlich bedeckt mit dem
schleimigen, leuchtenden Zeug, das Pablo immer unsympathischer wurde, die
Sicht. An einer Wand lehnten Yeti und Hornleid.
Sie lebten also auch noch. Verschlafen nickte Pablo ihnen zu, doch Hornleid
schien ebenfalls zu schlafen. Er reagierte nicht, dafür präsentierte Yeti sein
unverwechselbar breites Grinsen, welches das zentnerschwere Ungetüm wie ein
durchtriebenes Kind wirken ließ.
Pablos Geist klammerte sich noch mit aller Macht im Reich des Schlafes fest,
doch nach und nach löste sich ein metaphorischer Finger nach dem anderen und er
stürzte der bitteren Realität entgegen.
So gelang es Pablo, eine Entdeckung zu machen. Hornleid und Yeti lehnten an
einer Wand. An einer Wand!
Tatsächlich handelte es sich nicht um einen kleinen Hohlraum im Berg, sondern
in einen von Hand gestalteten Raum. Die rechten Winkel taten Pablo nach der so
lang scheinenden Zeit in den Höhlen gut und vermittelten ihm ein Gefühl von
Sicherheit.
Erstaunlicherweise widerriefen die dicken Eisenstangen, welche die vierte Wand
des Raumes ersetzten, diesen Eindruck.
Kurz fragte sich Pablos erwachendes Bewusstsein, wieso das der Fall war, die
Eisenstreben wirkten doch sehr solide und standen eng beieinander, so dass
eigentlich keine Gefahr hereinkommen konnte. Dann erst bemerkte er die aus
einem nicht minder starken Gitter bestehende Tür und das riesige
Vorhängeschloss.
Auf der Außenseite.
"Eine Zelle! Wir sind in einer Zelle!", entfuhr es ihm.
Poncho imitierte einen Tusch.
"Yeti, du schuldest mir eine Silbermünze. Ich sagte doch, er braucht
mehrere Minuten, bis er es rafft." Yeti grinste.
"Darfst dein Vertrauen niemals in einen Menschen setzen. Hätte mal besser
auf meine alte Mutter gehört", scherzte er. "Geb dir die Münze, wenn
wir hier raus sind. Hab momentan keine da."
"Ist schon in Ordnung. Der Triumph ist mir Lohn genug. Daran sollte sich
so mancher Mensch mal ein Beispiel nehmen."
Pablo war sich sicher, dass Poncho dem Yeti zuzwinkerte. Er zwinkerte! Poncho
hatte zwar keine Augen, aber Pablo kannte ihn so lange, dass er so etwas mit
Sicherheit feststellen konnte.
Als er wieder das Wort ergriff, klang seine Stimme panischer und höher als
sonst.
"Wir sind immer noch in diesem verdammten Berg. Wir sind nicht näher am
Ausgang als vorher, sondern wahrscheinlich noch viel tiefer drin. Und wir sind
in einer Zelle! Wie könnt ihr da eure dämlichen Scherze machen?", fuhr er
sie an.
Aus Yetis Richtung erklang ein leises "Also ich fand sie gut" und
Poncho sagte nur: "Das ist es. Die Situation ist be… scheiden genug. Kein
Grund, sie durch schlechte Laune zu verderben. Positiv denken. Ich sehe nicht dieses
erbärmliche Frühstück… ", unter lautem Schmatzen verschwand der gammlige
Fleischfetzen in Ponchos Falten, "… sondern freue mich, denn ich habe eine
Silbermünze gewonnen. Negatives Denken führt zu Herzproblemen und ist auch
sonst gesundheitsschädlich, sagt man."
"Du hast überhaupt kein Herz, Staubwedel.
Wahrscheinlich wird man uns töten!"
"Könnte passieren. Schau mal, Fleischsack. Da kommt unser Wärter.
Vielleicht versucht er, mit dir zu sprechen. Yeti und mich nimmt er
merkwürdigerweise nicht als Personen wahr, obwohl wir doch die geistige Elite
dieses kleinen Trupps sind. Hornleid hat den armen Kerl vorhin so angeschrien
und fast durch die Gitterstäbe erwürgt, dass er ohne ein Wort zu sagen wieder
geflüchtet ist. Der Wärter, meine ich. Hornleid musste sich nach dieser
lautstarken Anstrengung erst einmal aufs Ohr legen, wer kann es ihm
verdenken."
Pablo ignorierte Ponchos Gefasel und richtete seinen Blick durch die
Gitterstäbe auf den schmalen Gang, der durch die Zwischenräume erkennbar war.
Ein Wesen näherte sich.
Im Prinzip ähnelte es den Fellmonstern, die für Pablos gewaltige Beule am Kopf
verantwortlich waren.
Allerdings wirkte der Wärter wesentlich kultivierter. Sein Fell war nicht lang
und zottelig, sondern kurz geschnitten, abgesehen von einer Stelle auf der
Oberseite seines kugelförmigen Körpers. Es wirkte fast wie eine menschliche
Frisur. Der riesige Mund war nicht geifernd geöffnet, sondern zeigte ein
schüchternes Lächeln, was aufgrund der vielen spitzen Zähne jedoch immer noch
gefährlich wirkte.
Außerdem trug das Wesen eine Art Toga.
Die Arme wirkten erstaunlich dürr und als das Wesen anfing zu sprechen, klang
seine Stimme fast zittrig.
"Hallo, Oberweltler. Mein Name ist Mabo, ich bin der Sohn des obersten
Rudelherrn dieser Region. Ich finde es unsinnig, dass ihr verurteilt worden
seid und möchte euch helfen. Bist du bereit, vernünftig mit mir zu reden oder
wirst du auch wieder anfangen zu schreien, wie es dein Artgenosse tat?"
Auch wenn Mabo einen vergleichsweise freundlichen Eindruck machte, war Pablo
nicht besonders gut auf ihn zu sprechen.
"Wenn du uns helfen willst, mach das Schloss auf. Zu was sind wir
verurteilt und vor allem, warum überhaupt? Deine Kollegen haben doch uns
angegriffen. Dass wir sie getötet haben, war keine böse Absicht. Wir wurden
angegriffen und haben uns verteidigt. Wir sind keine Mörder!"
Mabo wirkte erschreckt. "Ihr habt getötet? Wann war das, und warum? Jemand
hätte mir davon berichten müssen…
Erzähl mir alles darüber!"
"Na was meinst du denn, wie wir hierher gekommen sind?
Wir waren in einem dieser Gänge unterwegs und wollten nur aus dem Berg fliehen.
Da stürmten dutzende deiner Freunde auf uns zu und prügelten so lange auf uns
ein, bis wir umfielen. Wir haben uns gewehrt und bestimmt einige von ihnen
getötet."
Pablo versuchte, aus diplomatischen Gründen bedauernd zu klingen, letztendlich
klang es aber eher nach grimmiger Zufriedenheit.
Mabo gab daraufhin merkwürdige Geräusche von sich, Pablo verstand, dass es ein
kicherndes Lachen sein musste. Das Fellwesen wirkte erleichtert.
"Ihr redet von den Drohnen! Diese ungepflegten Bestien sind weniger wert
als Tiere. Es sind Werkzeuge, sie gehören nicht zu unserer Art. Dass ihr sie
getötet habt, wird euch niemand vorhalten. Niemand wird auch nur daran denken.
Mord an Drohnen…"
Wieder ertönte das Kichern.
Pablo verstand diese Wesen einfach nicht.
"Sie sehen genau so aus wie du, nur etwas ungepflegter. Ihr opfert eure
Brüder, um ein paar Leute festzunehmen, die euch nichts getan haben?"
"Drohnen sind keine Brüder! Drohnen sehen aus wie wir, doch sie haben
keinen Verstand, nicht das geringste bisschen. Sie wären nicht in der Lage,
sich selber zu ernähren. Wenn man einer Drohne keinen Befehl gibt, tut sie
nichts. Sie würde rumstehen, rumsitzen, sich vielleicht mit anderen Drohnen prügeln,
aber sie würde sich keine fünf Meter von dem Platz fortbewegen, wo Ihr sie
zurückgelassen habt. Es gibt viel zu viele von ihnen. Man kann nicht vorher
wissen, ob aus einem Ei eine Drohne oder ein Bruder schlüpft. Es ist schon eine
gute Quote, wenn einem Gelege zehn Drohnen und ein Bruder entspringen. Wir
benutzen sie, damit sie uns helfen. So geben wir ihrem Leben wenigstens einen
Sinn, es ist besser, als sie einfach alle zu töten.
Denn auch Drohnen brauchen Platz, sie müssen gefüttert werden. Deshalb wurde
vor langer Zeit beschlossen, Drohnen nicht als Mitglieder der Familie
anzusehen. Jeder kann mit ihnen machen, was er will. Sogar Oberweltler wie
ihr."
Pablo begann zu verstehen, worauf Mabo hinaus wollte. So richtig gutheißen
konnte er das Verhalten der zivilisierteren Fellmonster nicht, auf der anderen
Seite konnte er diese Handlungsweise nachvollziehen.
Außerdem war er nicht hier, um fremden Völkern etwas über Ethik und Moral
beizubringen.
"Wenn wir keine Mörder sind, warum sitzen wir dann in dieser Zelle? Was
ist unser Verbrechen und was ist unsere Strafe?"
"Das ist leicht", antwortete Mabo nun traurig. "Ihr seid
Oberweltler, das ist euer Verbrechen. Eure Strafe wird es sein, in der Arena zu
kämpfen. Dies hier ist der Gefangenentrakt in der großen Arena. Ihr werdet
einzeln gegen Ukran den Titanen antreten. Doch wie gesagt, ich möchte euch
helfen."
Man hörte, wie sich Schritte aus der Ferne näherten.
Mabo zischte noch:
„Ein Wächter kommt. Ich darf hier nicht gesehen werden. Verhaltet euch einfach
ganz normal, bis ich wieder komme."
Dann war er auch schon verschwunden.
"Verhaltet euch ganz normal, pah! Sollen wir einfach ganz normal gegen
diesen Ukran kämpfen und ganz normal dabei sterben, oder wie stellt dieser Kerl
sich das vor?"
Poncho antwortete ihm.
"Er wirkt so jung, findest du nicht? Ich glaube er will uns wirklich
helfen. Was er erzählt hat, war sehr interessant und aufschlussreich. Doch ich
fürchte, der gute Junge hat noch keine Ahnung, wie er es anstellen soll, dass
wir nicht von Ukran niedergemacht werden."
"Das werden wir ja sehen", knurrte der Yeti aus seiner Ecke. Er hatte
offensichtlich ebenso gespannt gelauscht wie Poncho.
"Wenn wir Glück haben, kommt er zurück, bevor wir kämpfen müssen. Lasst
uns Hornleid wecken und überlegen, wie wir uns am Besten "normal
verhalten", ohne getötet zu werden", schlug Poncho vor.
Genau das taten sie dann auch.
In der Besprechung mit Hornleid wurde schnell klar, dass sie nicht viele
Alternativen hatten.
So beschlossen sie, ruhig in der Zelle auf Mabos Rückkehr zu warten. Wenn sie
kämpfen mussten, würden sie versuchen, das irgendwie zu überleben.
Auf jeden Fall entschieden sie sich gegen Yetis Plan, dem Wärter, der
inzwischen vor der Zellentür stand, durch die Gitterstäbe den Kopf abzureißen
und anschließend zu improvisieren.
Mabo schien viel mehr Erfolg zu versprechen, als es jeder verrückte
Ausbruchsplan gekonnt hätte.
Also verteilten sich alle wieder auf dem Zellenboden und begannen konzentriert,
sich zu langweilen. Etwas anderes gab es schließlich nicht zu tun.
***
An
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